Einführung zur Ausstellung von Veronika Wenger "Verschwunden" in der Färberei München am 18. September 2008

 

Michael Hofstetter:

Veronika Wenger: Das Verschwinden auf der Bühne 

 

Die Zeichnungen und Filme von Veronika Wenger handeln alle von Veronika und zwar in dreifacher Hinsicht. Einmal von der realen Person Veronika, der Tochter von Heinz Wenger, von der symbolischen heiligen Veronika in deren Zeichen die Reale von der Welt erkannt und angesprochen wird, und von der Tätigkeit der Namenspatronin, die wiederum deren Namensgrund war: vera icon, dem wahren Bild. Diese drei Repräsentanten flechten sich in der Arbeit von Wenger ineinander und formen sowohl das Subjekt und Objekt ihres künstlerischen Werks. Analog zu den drei Repräsentationen des Einen in der christlichen Gottesvorstellung erscheint sie als Autorin (Vater), Performerin (Sohn) und Werk (Geist). Wie das wahre Bild sich nur als Zeigen, als Differenz, als Bild im Bild vorstellen kann um über die Spaltung eine Spur auf das eigentliche, verborgene und verschwundene zu legen, weisen die Werke von Wenger auf ein dahinter liegendes Verborgenes. Die Spur, die in dieser Differenz, in diesem Spalt sich als unfassbare und unbegreifliche legt ist das Begehren.

Veronika Wenger inszeniert sich in ihren Werken selbst als Objekt des Begehrens und koppelt die Frage nach ihrer weiblichen Rolle an die des wahren Bildes, bindet ihr Unbewusstes an das Zeichen. Das Begehren ist dabei sowohl inszeniertes Moment als auch manifester Zustand. Alle ihre Filme ließen sich auf die typologische Kurzformel bringen: Eine Frau wird von einem Mann begehrt, der sie durch den ganzen Film vergeblich zu begegnen sucht. Das Begehren der männlichen Rolle im Film korrespondiert mit dem Blick des Betrachters auf den Film, den er sich zu eigen machen möchte. Die männlichen Verfolger und Liebhaber in den Filmen sind deshalb nur agierende gleichsam ins Bild hereingenommene Stellvertreter des passiven Publikums. Wenn in ihrem Film „Verschwunden“ der ins Kino bestellte hartnäckige Verehrer dort statt ihrer selbst nur sie auf der Leinwand zu sehen bekommt, gleichsam entrückt als Bild im Bild und doch Teil des Bildes dann zeigt sich hier über eine Staffelung der Repräsentationsebenen die klassische psychoanalytische Konstruktion von Begehren, als ein immer zu spät, als ein sich ständiges Entziehen, dessen worauf mein Begehren zielt – als ein Fading out. Wenger vereinigt die abendländische Vor-stellung des Bildes mit der psychoanalytischen Vor-stellung des Ich und bindet beide an ihrer Person. Beide Vorstellungen sind gleichzeitig Schleier und Spiegel, vereinigt in ihrer Spaltung von wahrer Abwesenheit und stellvertretender Anwesenheit, von Signifikat und eines Signifikant, von Realem und Bild, von „moi“ und „je“.

Wenn ich oben gesagt habe, dass die Filme von Veronika Wenger prototypische Geschichten einer verfehlten Liebe sind, so habe ich damit einen allgemein üblichen Begehrenszugriff schon vollzogen. Ich habe einer völlig kontingenten unzusammenhängenden und bruchstückhaften Bilderfolge eine Geschichte unterschoben, um mein Ich an dem unbegreiflichem Außen zu versichern. Ich habe die Bildfolge in eine Ordnung gebracht, die es mir möglich macht sie in mein Weltbild mit meinen Erfahrungen zu integrieren. Ich habe den gewohnten, mir mein Überleben sichernden, Zugriff auf die Gegenstände gemacht und dabei ihr wahres Sein vernichtet. Ich habe mich verhalten, wie ein Mann in seiner traditionellen Rolle als Verwalter des Logos: ich habe die begehrte Person auf mich hin zentriert. In diesem Zusammenhang ist der Satz von Elfriede Jelinek zu verstehen, dass das Verschwinden die eigentliche Aufgabe der Frau in der Liebe sei. „Der Andere", schreibt Roland Barthes in „Fragmente einer Sprache der Liebe", „taucht da auf, wo ich ihn erwarte, da, wo ich ihn bereits geschaffen habe“. Der logozentrierende Blick tötet den begehrten Anderen, weil er nur das vom Anderen abzieht, was er in ihn hineingelegt hat.

Ist das Begehren ein Immer-zu-spät, ein Immer-zu-spät für jedes Sprechen, ein Immer-zu-spät für jegliche Sprache mit ihrer notwendigen räumlichen, zeitlichen und logischen Ordnung. Ist das Begehren also immer der Mangel der Sprache, ein verzweifeltes Sprechen des Verstummens, so ist das Sprechen immer ein Zu-früh, die Vorwegnahme dessen, woran die Sprache nicht heranreicht und deshalb sich anstelle dessen setzt, was unaussprechlich bleibt, weil es unterhalb der Sprache liegt; weil aber das Begehren zum Sprechen drängt, setzt sich immer notwendigerweise ein falsches „Ich“ an die Stelle des begehrten Du. Ich stehe jetzt vor ihnen als derjenige, der spricht und mit diesem Sprechen immer zu früh, immer zu schnell, immer zu voreilig ist, und ich erscheine hier in dieser Ausstellung in dem Video „Verschwunden“ von Veronika Wenger als einer, der immer zu spät, der immer schon eingeholt ist von dem Entziehen selbst. Zu früh und gleichzeitig zu spät zu sein sind zwei Formen des Verfehlens: das Erscheinen als Absenz und das Verschwinden als Präsenz. Pathologisch gesprochen oszillieren wir zwischen dem immer vorauseilenden Logos und der hinterhereilenden Hysterie. Ein Spiel zwischen Hase und Igel, zwischen dem Immer-schon-da-sein und dem Nie-hinterherkommen, ein sich wiederholendes Hin und Her. (Hier liegt der Schlüssel für das formale Prinzip der Wiederholung des Immergleichen in den Filmen von Veronika Wenger.) Dass wir nie die Sache selbst treffen, nie dem wirklichen „Du“ begegnen, sondern immer vorbeizielen, als wiederholende Schichtung von Differenz auf Differenz ist das Movens der Kunst und der Liebe. Dieses ständige doppelte Verfehlen in seiner Genauigkeit wiederzugeben heißt Schönheit gebären. Die Gelungenheit ist Poesie. Sie ist der Trost einer kurzen Entlastung.

Die Werke von Veronika Wenger kreisen alle um dieses Hin und Her, dem versichernden Sprechen und dem diesem Sprechen sich entziehenden Begehren, der logozentrierenden Herrschaft des Blickes und der Zerstörung dieser Ordnung. Sie benutzt den zeitlichen Verlauf des Films um einen ständigen Wechsel zwischen Behauptung und Aufhebung, zwischen Bestätigung und Zurückweisung, zwischen Nähe und Distanz zu inszenieren. Der Betrachter, der ständig nach dem Sinn des Ganzen, nach einer kohärenten Ordnung der Bilder sucht, durchläuft dasselbe Wechselbad von Aneignung und Verlust, von Versichern und Verlieren, wie der männliche Protagonist im Film in seinem Begehren der Frau. Das scheinbar einfache Setting in den Filmen: Eine Frau, umgeben von ein oder zwei Männern in typologischer Vereinfachung, bilden den minimalen Zusammenhang jeden Films und legen eine Geschichte nahe, die dann in keinster Weise erfüllt wird. Wengers Filme weisen jeden narrativen Zusammenhang von sich. Dort wo diese anfangen eine Geschichte zu erzählen zerstört sie jede Illusion von zusammenhängender Geschichte. Durch Wiederholung in minimalen Abwandlungen immer gleicher Szenen, Einfärben von Teilen in künstliche Farbe, Erstarrung der Bildfolge durch Standbilder, Einmontieren von Zeichnungen, zerfällt der Film in ein Hintereinander von scheinbar zusammenhanglosen Einzelmomenten, enttäuscht jede Erwartung und erzeugt eine Langeweile, eine De-Sensation die ihn an den Rand des Verschwindens bringt, um ihn dann sogleich wiederzubeleben mit neuen Sinnfäden, die dann auch nur kurz tragen. So wie sie logische und narrative Zusammenhänge und Folgerichtigkeiten unterbricht, ins Leere laufen lässt und falsche Spuren legt, so lässt sie ihren männlichen Verehrer ständig in die Leere laufen und kappt jeden Zugriff auf sie.

Wenn Wenger ihren neuen Film und ihre Ausstellung mit „Verschwunden“ betitelt, so weist so auf das Problem der Darstellung schlechthin. Sie reiht sich ein in die christliche Vorstellung des nicht Darstellbaren, in der das Bild selbst und die Kunst zur Disposition steht. Das vera icon ist als Symbol von Darstellbarkeit immer auch Metapher für den unerfüllbaren Wunsch der Selbsttranszendierung des Kunstwerkes. Das Antlitz Jesu der traditionellen vera icon Darstellung wechselt Wenger aus durch zeichnerische und fotografische Darstellungen ihrer Person. Zieht man in Betracht, dass es in der traditionellen Darstellung von Jesus nicht um die Ähnlichkeit ging, sondern dass sie vielmehr Platzhalter, Zeichen eines Nichtdarstellbaren ist so wird in den Arbeiten bei Wenger ihr Abbild, das Herstellen von Wiedererkennbarkeit zur Frage nach der Identität, zur Frage nach dem Selbst- und Fremdbild. Im Kanon des abendländischen Bildes kann das Sichtbare nur zum Spiegel des Unsichtbaren werden, wenn es die Qualität des Gegenteils annimmt. Erst so wird es zum gegenständlichen Zeichen, das nicht nur auf einen anderen Gegenstand hinweist. Das Sichtbarwerden eines Unsichtbaren bedingt mithin die Verschleierung, gleichsam ein Sichentziehen, des direkt Sichtbaren. Das Sichtbare und das Unsichtbare sind in psychoanalytischer Hinsicht nur zwei Seiten ein und desselben. Es ist die Differenz die sich an dem begehrenden Blick des Anderen generiert. Nur über das Sichtbare, die Schließung, die Einvernahme kann Begegnung stattfinden. Dass diese Begegnung immer im Zeichen des Phallus, des Herrensignifikanten stattfindet ist ihr unvermeidlicher Tribut an das Reale. Kunst ist in der Lage das vorzuführen, der Mensch kann das nur mitspielen. Er ist gefangen in der Oszillation zwischen dem Wunsch begehrt zu werden und der Abwehr des durch dieses im Zeichen der Herrschaft entstandenen falschen Bildes. So wie es aber nicht das wahre Bild gibt können wir auch nicht dem wahren „Du“ begegnen.
Dieser Zusammenhang zwischen notwendig falschem Bild und Sichtbarkeit, dem falschen „Ich“ und Begehrbarkeit, durchzieht das Werk von Wenger. In diesem Sinne ist das Übermalen und Übersprayen von Darstellungen ihrer Person als Idol in der Rolle einer Solosängerin vor einem Mikrofon in den Zeichnungen zu verstehen. Das immerwiederkehrende „non-plus“, das aufgesprayte Präfix „ver“, als vielleicht die erste Silbe der Wörter „verrinnen“, „verlaufen“, „vernichten“, „vermalen“, „verirren“, „verschwinden“ kann man als doppelte Aus- und Durchstreichung eines idolisierten Bildes von ihr verstehen. Zum einen als buchstäbliche Ausstreichung des schon bestehenden Bildes durch die Farbspur und als semantische Verneinung. Das aufgesprayte „Ver“ ist auch der abgespaltene und isolierte Teil von Veronika selbst. Diese Abspaltung kann sie nun dem Wünschen des Mannes voranstellen und ihn in seinem Wünschen Verwünschen. Das „Ver“ kann sowohl als Verlaufsform gedeutet werden oder aber als Überschreibung einer Vorstellung durch eine andere, einer ersten falschen Sichtbarkeit durch eine weitere. Diese doppelte Verneinung die dann letztlich doch eine doppelte Bejahung der Gefangenschaft im Zeichen zeigt wird zum Memento Mori, zur Vergeblichkeit schlechthin. 

Bilder markieren jenseits dessen, was sie darstellen, als bloßer Akt des In-die-Welt-setzens immer einen Anspruch auf Herrschaft. Damit treten sie in Konkurrenz zu bestehenden Herrschaftsansprüchen, die sie versuchen, mit dem Ziel der vollständigen Machtübernahme zu schwächen, indem sie ihr Begehren wecken: Bilder kämpfen um die Aufmerksamkeit des Phallus. Und dies umso mehr, wenn es sich bei den Urhebern der Bilder um Urheberinnen handelt. Die Tatsache, dass Veronika Wenger nicht selbst ihre Zeichnungen übersprüht hat, sondern einen Graffitikünstler damit beauftragte, eröffnet den Raum der Rückprojektion: das Begehren des männlichen Begehrens, das Begehren des Wissens und der Herrschaft, das Begehren des Herrensignifikanten. Der Graffitikünstler, der subversiv in der Gesellschaft arbeitet und im Dunkeln seine Markierungen, seine Ansprüche auf Existenz streut, ist der anonyme, nicht auf die Bühne tretende Mann. Als ihre Macht nicht demonstrierende und angebende Figur, und in diesem Fall als Ermöglicher und Vollender im Hintergrund, wird er zum Mittler und Bundesgenossen in der unüberbrückbaren Spannung zwischen Macht und Machtlosigkeit, die sich im Verhältnis der Geschlechter austrägt. Er ist der Bruder. Beide, Schwester und Bruder, stehen in unterschiedlicher Position in der Herrschaft des Phallus. Er ist derjenige, der durch seine potenzielle, aber nicht vollzogene Nachfolge eine Alternative zum Vater bildet und als Komplize der Schwester diese aus ihrer Gefangenschaft, aus ihrer hysterischen Abhängigkeit befreit, ohne dass sie dabei ihre Rolle als Verführerin aufgeben muss. Beide sind vereint im Aufbegehren gegen die Herrschaft des Vaters, wobei sie ihre Macht, die Macht der Begehrten, behält, aber ihre Ohnmacht gegenüber dem Vater durch ihr Bündnis mit dem Bruder an diesen überträgt. Mit der Übertragung der Zerstörung des Bildes an den Bruder befragt Wenger den Anspruch des Autors. Sie bringt die Frage nach dem Meister ins Spiel, hinterfragt damit die gesellschaftliche Etikettierung Meisterwerk. Die Kooperation mit dem Bruder erweist sich auch auf dieser Ebene als Subversion der Herrschaft.

Das auf diese untergründige Weise eingeschmuggelte Präfix „Ver“ in den Film bildet das konstitutive nämliche zeitliche Moment des Films selbst. Es ist der Ver-lauf. Es ist die Fähigkeit Bilder durch Bilder zu ersetzen und ständige Aufhebungen zu realisieren. Indem der Film die fixierten Bilder, die eingefrorene Welt zum Laufen bringt, ist er fähig, die Zu- und Einschreibungen des Anderen zum Schwinden zu bringen, sie zu verwässern und sie aufzulösen und jenes nichtbegriffliche Reich zu berühren, wo das Ding an sich, das unbewusste, das „moi“ wohnt. Dieses Laufen der Bilder korrespondiert mit dem Davonlaufen der Angebeteten vor ihrem Anbeter um sich zu retten. Wenger setzt diesem Davonlaufen noch eins drauf indem sie, wie wir oben gesehen haben, die Möglichkeit eines übergeordneten Sinnzusammenhangs, einer Geschichte, auch noch zerstört. Es ist als ob das wahre Bild inkarniert in der Erscheinung der heiligen Veronika dann psychologisiert durch Veronika Wenger zu uns dem Stellvertreter des phallischen Begehrers ständig sagen möchte: „Ich bin es nicht“. Dabei müsste sie eigentlich sagen: „Ich bin ich nicht“. Denn würde das „Es“ im Darstellen sich nicht zum „Ich“ wandeln, gäbe es kein Begehren und keine abendländische Kunst.