Michael Hofstetter

Wer will noch radikal sein? 2000

Ein Essay zu Frieder Buhls Installation "Radikalitätsdefizit", 1998, Akademie München

… in dem Maße, in dem die Gesamtwirklichkeit als verbindlicher, kontingenter Sinnzusammenhang verloren ging, (hat sich) das Interesse der Kunst immer mehr den konkreten Einzelaspekten dieser zerfasernden Realität zugewandt.

Ulrich Meister, DINGE in der Kunst des zwanzigsten Jahrhundert, Göttingen 2000.

Radikal sein ist aus der Mode gekommen. Der bloße Verdacht, einer habe Radikales im Sinn, reicht schon aus, ihn als Spaßverderber auszugrenzen. Versuche der letzten Jahre wie die von Dietrich Diederichsen, Joshua Decter oder Paolo Bianchi, eine radikale Position für die Kunst der Neunziger zu definieren, werfen zugleich die Frage auf, wie Radikalität heute aussehen, wie Radikalität sich heute wirkungsvoll durchsetzen, worin Radikalität sich heute äußern könne. Die Möglichkeit radikaler Kunst ist fragwürdig geworden.

Hat die Kunst heute ein "Radikalitätsdefizit"1? Vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis in die sechziger Jahre ist Kunst als Avantgarde gesellschaftlicher Entwicklung Synonym für Radikalität. Der Moderne, so scheint es, ist Radikalität – gemäß der Marxschen Definition eine Wurzelbehandlung gesellschaftlicher Missstände mit künstlerischen Mitteln – selbstverständlich. Ob Suprematismus, Futurismus, Dada, Surrealismus oder Situationismus, immer versteht sich künstlerisches Handeln als grundsätzliche Infragestellung gesellschaftlicher Übereinkünfte – meist im Reflex durchzusetzender politischer Utopien. Es kommt darauf an, daß "ein Beobachter , ein Leser in eine Wahrnehmungssituation gebracht wird, in dem die Einmaligkeit des Gesehenen, des Gelesenen vorherrschende Wahrnehmungsmaßstäbe und Wertvorstellungen ins Schwanken bringt"2. Doch auch mit dem Krieg als Bündnispartner gegen eine sich einrichten wollende Bourgeoisie bleibt Expressionimus, Dada und Surrealismus spätesten ab den fünfziger Jahren die Rolle als society-Maler nicht erspart. Den Situationisten ist da längst klar, daß sich Radikalität nur ohne Kunst erreichen läßt. Sie schließen die Künstler und damit die Ursache des Problems, die in ihrer Doppelrolle von Autonomie und fait social als sich gegenseitig korrigierende und gleichzeitig einander einholende Bewegungen prinzipiell überforderte moderne Kunst einfach aus. So zieht sich Radikalität in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf künstlerische Vorgangsweisen zurück, etwa in der Beschränkung der Darstellung (Minimalimus) oder in der Verwendung einer neuen Technik (Fotografie, Video). Radikal ist nur noch der Stil, die Vereinfachung, der Ausdruck. Der 'Schock', ursprünglich ein Mittel, trotz zunehmender Autonomisierung der Kunst mit künstlerischen Mitteln ins Leben einzubrechen, nutzt sich über die Jahre hinweg zum Vertrauten und Erwarteten ab. Das ganz 'Andere' in der modernen Kunst, das durch das Befragen blind sich vollziehender gesellschaftlicher Prozesse und das Übertreten von Tabus Fremdheit – im besten Fall das Verdrängte der Gesellschaft – evozierte und Garant war gegen allzu schnelle Inbesitznahme, ist zum Gleichen geworden. Doch nicht nur Chic gewöhnt jedes Auge an das Fremde und macht es zum Vertrauten. Reale Zustände darzustellen, ohne in ihnen involviert zu sein, ist für die Kunst ungleich schwerer geworden, seit sie sowohl Handelware als auch gelesene Spur von Unbewußtem ist. In beiden Fällen vermittelt das Kunstwerk sich auf unterschiedlichste Weise in das vollziehende Leben zurück, um sich dort mit ihm zu verbünden. War schon in früheren Jahrhunderten die tatsächliche Einverleibung über den Ankauf ein probates Mittel, so verfügt der informierte Betrachter mit der Erfindung der Psychoanalyse über ein zusätzliches Mittel, die Gefordertheit durch die Kunst zu unterlaufen. Sein Verweisen auf plausible Zusammenhänge zwischen dem Unbewußten des Künstlers und dessen Hervorbringungen macht jeden gesellschaftlichen Anspruch des Kunstwerkes zu einem Problem des Künstlers. Mit der Kunst verhält es sich wie mit dem Verbrechen: Hat man erstmal das Motiv, ist der Tat jede gesellschaftliche Brisanz genommen. Jede Rezeption trachtet prinzipiell danach, künstlerische Erzeugnisse in bestehende Lebenszusammenhänge zu integrieren. Dieser Integration wollte sich die frühe Moderne widersetzen, nicht aber auf den Stachel gegen das blind sich vollziehende Leben verzichten. Doch der Stachel ist auch der Hebel, mit dem das liberale Establishement die Kunst zu domestizieren weiß. Gegenüber der – etwa von Peter Bürger am Beispiel des Ready-made beschriebenen – Entschärfung von Provokation durch Rezeption verrechnen Roland Barthes und Jacques Lacan die genannten Antagonismen zwischen Produktion und Rezeption erstmals positiv. Sie schließen den auf Abwehr geschulten Betrachter nicht länger als Feind aus dem Kunstdiskurs aus. Mit der Verwebung von Produktion und Rezeption stellt sich das Kunstwerk nun offen der Dynamik von Signifikat und Signifikant. In dieser Immanenz der Beziehungen und Bedeutungen, die sich in einer geschichtlichen Bewegung vollzieht, gibt es kein Außen mehr, keine Utopie und keine Transzendenz. Radikalität wird nur noch versucht in der Dekonstruktion der Entstehungsbedingungen dieser Immanenz. Es geht nicht mehr um die Zeichen der Politik, sondern um die Politik der Zeichen. Dieser Verunmöglichung von Revolution verweigert sich der Wortführer der letzten Avantgarde, der Internationale Situationist G. E. Debord; er sucht jenseits der propagierten Totalität der Immanenz nach Handlungsmöglichkeiten, um die Gesellschaft radikal zu verändern, nach Zeichen der Politik. Die Ästhetisierung der Gesellschaft, die Gesellschaft des Spektakels, soll durch radikale Praxis unterlaufen werden. Diese Sehnsucht nach radikalen Veränderungen jenseits von Kunst teilen die Situationisten mit dem Terrorismus.

Radikalitätsdefizit: Vorwurf oder Bestandsaufnahme?

Frieder Buhls Installation Radikalitätsdefizit in dem an der Peripherie der Münchner Akademie gelegenen Raum 328 zeigt in der Mitte des Raumes ein Modell der bayerischen Landeszentralbank. An der rechten Wand hängt auf einem Kleiderbügel ein weißer Overall mit einem schwarzen Balken auf Brusthöhe, worauf in gelben Buchstaben MOMO zu lesen steht; daneben ein Fertig-Stahlregal mit 4 Fächern, bestückt mit 2 unterschiedlichen Masken, einem Bunsenbrenner, Gummihandschuhen, Spannungsmesser, Säge, Bohrmaschine, Elektrokabel, Meterstab sowie weiteren sowohl für die Durchführung eines Banküberfalls als auch für die Herstellung der Installation benötigten Werkzeugen und Materialien. Neben dem Regal sind Farbfotokopien von Kunstwerken, die große Ähnlichkeit mit der Rauminstallation aufweisen, an die Wand gepinnt. Neben ihnen steht, etwas nach hinten versetzt, ein Fernseher auf einem akademieeigenen Hocker; ein Video zeigt einen Fluchtweg von der Bank weg in die Sicherheit. Über dem Fernseher hängt ein dreidimensionales Modell von der Umgebung der Landeszentralbank an der Wand. In einer Ecke des Raumes wurde der Boden aufgestemmt und ein Loch ausgehoben, das eine Flucht- oder Eindringungsmöglichkeit andeutet. Die Multimediainstallation etabliert auf formaler Ebene eine Beziehung zwischen den Gegenständen, die von Planung und Durchführung eines Banküberfalls spricht. Ihr finaler Charakter überspielt die Brüche zwischen den Repräsentationsebenen der ausgestellten Teile – Ready-made, Architekturmodell, Video, bildhauerischer Intervention, Fotokopie – , doch scheinbar, ohne sie zu thematisieren. Die Symbolik des Bankraubes verleiht den Gegenständen den Status von Reliquien, wobei es unerheblich ist, ob die Tat bereits geschehen ist oder noch vorbereitet wird. Buhls einen Bankraub suggerierende Installation weist auf das konstitutive Merkmal der Moderne: die Überschreitung gesellschaftlicher Tabus als selbstreflexive Bewußtmachung der Bedingungen von kapitalistischer Existenz. Den Beginn der Moderne bestimmen Künstler, die das Verbrechen besingen: de Sade, Poe, Baudelaire, Lautréamont. Die ästhetische Komplizenschaft mit dem Bösen ist das Ergebnis einer radikalen Analyse der Verbrechen des imperialistischen Kapitalismus am Ende des 19. Jahrhunderts. Die Kälte, das Zynische, die Rücksichtslosigkeit, die Verhöhnung aller humanistischen Ideale und sozialer Anteilnahme in den Werken der modernen Künstler ist Mimesis der Produktionsverfahren und -methoden der Ökonomie unter Abwesenheit des die Brutalität verdeckenden Produkts oder Mehrwerts. Der moderne Künstler denunziert den Produktionswahn, indem er dessen Methoden übernimmt, dessen Ziele aber ablehnt. Anstatt dem Diktat der Akkumulation von Geld und Gütern zu gehorchen, frönt er dem Dandytum und zeigt diebische Freude über jeden gut ausgeführten Diebstahl am Eigentum anderer. Nietzsches Kritik an der herrschenden Moral als Instrument zur Durchsetzung von Machtinteressen und Unterdrückung der Begierden des Subjekts zugunsten der ihm zugewiesenen Funktion seitens der Gesellschaft erklärt die Normverletzung zum Gebot für eine emanzipative Praxis im Zeichen einer Übermoral. Das Verbrechen in der Moderne setzt das Begehren an die Stelle der Vernunft, den Flaneur an die Stelle des Arbeiters, Eigeninteresse an die Stelle von Fremdinteresse, Entwenden an die Stelle des Herstellens. Diese Symbolik des Verbrechens dient den Terroristen der siebziger Jahre zur propagandistischen Abfederung ihrer Gewaltakte. Die "Bewegung 2. Juni" plaziert ihre Aktionen in der Nähe des Happenings, um sich von den sogenannten normalen Kriminellen abzusetzen. Hatte die Kunst versucht, sich dem Terror anzudienen, um gesellschaftliche Relevanz zu erlangen, so bedient sich der Terror nun der Kunst, um seine Taten zu verniedlichen und bei der Bevölkerung Akzeptanz zu gewinnen.

In den Systemen ist man lieb, nett und langweilig.

Die Avantgarde legitimierte sich über ein Bild von Gesellschaft, in der die Grenzen zwischen Macht und Ohnmacht, Unterdrückten und Unterdrückern klar erkennbar waren. Hier war radikales Handeln möglich. Hier waren Übertretungen lesbar, entweder als subjektiv-privatistische oder objektiv-gesellschaftliche. Doch jede Bewegung, die durch Grenzüberschreitung gesellschaftliche Vorgänge aufdecken möchte, trägt notwendigerweise selbstreflexive Züge. Indem sie in eine eigene Geschichte eintritt, entsteht jenes Moment von Reaktion, welches zu bekämpfen sie angetreten ist.

Diese Erfahrung der Vergeschichtlichung der Avantgardebewegungen steht am Anfang der sogenannten Postmoderne. Sie weiß, daß jedes Außen ein Innen produziert, daß jede Manifestation von Subversion, von Kritik und Umsturz die Bedingungen und Strukturen des attackierten Ziels übernimmt, daß Subkultur von Anfang an latenter Mainstream ist. Für sie sind Übertretungen nur noch notwendige Transfers zwischen verschiedenen autopoietischen Systemen. Ein Banküberfall ist nicht mehr Tabubruch, sondern allein ein gelungener oder mißlungener Versuch, mit dem eigenen System in ein anderes einzudringen, wobei Erfolg und Nichterfolg von der Ausprägung defizitäre Strukturen im eigenen oder fremden System abhängen. Defizite im System sind die Öffnungen oder Ausgänge für andere Systeme. Es sind die Null- oder Schwachstellen, die neu besetzt oder umkodiert werden können. Die Übertretung der Avantgarde wird zur Überschreibung der Postavantgarde. Die Dinge werden nicht mehr an ihrer Wurzel, sondern an ihrer Repräsentation verhandelt. Das Bestreben, Wirklichkeitsphänomene mit biologistischen Systemtheorien zu erklären, hat inzwischen alle Bereiche des Lebens erfaßt. Vor allem die Evolutionsbiologie scheint die Anforderungen, Wünsche und Nöte des postindustriellen Menschen bestens zu bedienen. Das Modell von der DNS als einem Pool genetischer Informationen, die je nach Bedarf aktiviert oder deaktiviert, ausgetauscht oder optimiert werden, wird auf gesellschaftliche Prozesse übertragen. Kritische Künstler bedienen sich seiner Metaphorik, wenn sie danach trachten, die Zahl der Fehler, der Redundanzen, der inaktiven Stellen im Informationspool Gesellschaft zu erhöhen. Ihr Ziel ist nicht – wie für den Mainstream – die Optimierung des Systems, sondern die Affirmation seiner Defizite. Künstler wie Christoph Schlingensief verknüpfen mit ihrer entropischen Strategie verschiedenste Systeme, Jargons und Psychoklassen. Die Wiener Aktion "Ausländer raus" im Juni 2000 kombiniert die RTL-Sendung "Big Brother" als eine beschleunigte, temporäre Nation en miniature mit der diskriminierenden Ausländerpolitik der Österreichischen Bundesregierung. Über die gängige Praxis von Auswahl und Ausschlußverfahren mittels anonymer Zuschauerbeteiligung (TED) spiegelt er zur Entlarvung ihres terroristischen Potentials zwei Systeme ineinander, die sich sonst nie berühren würden. Durch die Koppelung der Entropien verschiedener Systeme entsteht hier eine neue Form von Radikalität.

Die Kunst der Zukunft ist sich zwischen alle Systeme und Ideologien zu setzen.

Die Installation "Radikalitätsdefizit" von Frieder Buhl muß auf diesem systemtheoretischen Hintergrund neu gelesen werden. Der Bankraub als radikale künstlerische Geste, einst Revolte gegen die oktroyierten kapitalistischen Bedingungen und Eintreten für das eigene Begehren, ist nun Modell für die Beziehung von zwei unterschiedlichen Systemen mit je unterschiedlichen Begehrlichkeiten und eigener Legitimation. Art und Weise des jeweiligen gegenseitigen Eindringens bzw. Umschreibens entscheiden, welche der beiden Systeme an Akzeptanz gewinnt.

Die versammelten Werkzeuge, Modelle und Bilder bilden ein System indexikalischer Spuren, die sowohl aufeinander als auch auf ein Drittes verweisen, ein System zwischen dem System der Akademie und dem der Landeszentralbank. Buhls Installation überschreibt mit ihrer Darstellung der Möglichkeit eines Banküberfalls die Farbspuren künstlerischer Tätigkeit an der Wand, die von alltäglichen Nutzung dieses Raumes zeugen und einerseits – innerhalb der Installation – das System der Lehranstalt repräsentieren, andererseits auf das Außensystem Akademie verweisen; die Installation wird nicht in einem weißen Raum, nicht auf neutralem Fond gezeigt. Daher vereinen sich die Gegenstände nicht allein zu einem Text, in dem sie eine rückwirkend durch die antizipierte Tat eine symbolische Bedeutung erhalten, sondern verfügen schon auf der ersten Ebene der Rezeption über eine indexikalische Bedeutung. Durch die Situierung der Installation zwischen zwei völlig verschiedenen Systemen entfalten die ausgestellten Gegenstände eine Dynamik der Bedeutungen, in der sie sowohl auf künstlerische Stile und Richtungen verweisen, wie auch sich von ihnen absetzen, als auch einen völlig anderen Gebrauch ermöglichen. Die Gegenstände sind gleichzeitig symbolisch und banal, tatsächlich und substitutiv, real und ikonisch. Buhl dockt seine Installation an den erkenntnistheoretischen Raum der Akademie an, ohne ihn jedoch mit einer eindeutigen künstlerischen Tätigkeit oder Geste zu besetzen, und verweist über die Ausstellung von Banküberfallsreliquien zugleich auf das kapitalistische System, das die Akademie umwölbt und in das eingedrungen werden muß, will der Künstler überleben. Dadurch eröffnet Buhl ein Spiel, in dem die gezeigten Dinge den Formenkanon der Repräsentationen in der Kunstgeschichte des XX. Jahrhunderts durchdeklinieren. Radikalitätsdefizit ist ein Cross-over, in dem die ausgestellten Werke die Rolle des Bindestrichs übernehmen. Das Motiv des Cross-over illustrieren die als Fotokopien an die Wand gepinnten Vorbilder. Sie zeigen Werke von Mark Dion und Renée Green, zwei Grenzgängern zwischen den Systemen: Dion zwischen Kunst und Biologie, Green zwischen Kunst und Bürgerrechtsbewegung, Werke, die formal, in der Art der Verknüpfung der Gegenstände und deren Werkzeugcharakter, Buhls Werk ähneln. Indem Buhl Bilder ihrer Installationen in das Raster der horizontalen und vertikalen Spuren vergangener Malaktionen einfügt, weist er sie als Ausdruck künstlerischer Tätigkeit aus. Durch die Dreidimensionalität seiner Objekte, die von der Wand weg in den Raum hineinragen, zieht Buhl eine Grenze zwischen den auf Fotokopien gezeigten Kunstwerken, den Farbspuren und der eigenen Tätigkeit. Er überschreibt mit seiner Installation die in den Fotokopien dargestellten Kunstwerke, die selbst wieder – was die Sachlage kompliziert – Zeugnisse einer Bewegung weg von der Kunst in andere Systeme sind. Radikalitätsdefizit ist ein hybrider Metatext über hybride Kunstwerke und -strategien. Die Installation ist gleichermaßen symbolisch und indexikalisch, modern und postmodern. Sie zitiert alle Medien und Formen von Kunst, um diese innerhalb des Kunstsystems zu zeigen und außerhalb des Kunstsystems zu plazieren. Anders als bei Fischli und Weiß, bei denen die ausgestellten Dinge nicht nur indexikalische Funktion haben, sondern auch selbstreflexiv sind, anders als bei Franz Erhard Walther, dessen Werksatz Instrumente zur Kunstaktion umfaßt, antizipieren die von Buhl gesetzten Spuren keine künstlerische Tätigkeit, sondern eine Handlung, die sich nicht von vorneherein als Kunst versteht (wenn sie auch von Künstlern als solche verstanden werden kann). Die Installation grenzt sich mit künstlerischen Mitteln – durch die Vorführung aller Formen der Ding-Präsentation in der Kunst des XX. Jahrhunderts – aus dem Kunstsystem aus. Ihrem Betrachter bleiben drei Möglichkeiten: Liest er den von ihr antizipierten Bankraub als Kunstwerk, erhalten die ausgestellten Dinge rückwirkend symbolischen Charakter. Erkennt er die modernistische Überschreitung des Bankraubes nicht als Kunst, bleiben sie indexikalisch. Liest der Betrachter die Installation sowohl indexikalisch als auch symbolisch, versteht sie als modernistische Geste wie auch als postmodernistischen Text, so zeigt sich, daß die Installation als radikal offenes Gebilde die möglichen Zuschreibungen wohl reflektiert, sich ihnen aber selbst entzieht. Zwischen den Lesarten oszillierend, unternimmt sie eine unerbittliche Bestandsaufnahme der Möglichkeiten künstlerischen Handelns, überprüft die Brauchbarkeit von Strategien, Stilen und Ideologien. Die Installation setzt sich zwischen alle Stile und Systeme und erobert sich so einen Raum, in dem radikale Bilder möglich werden. Doch zugleich führt sie ihn aber auch als eine Geröllhalde vor, auf der feste Standpunkte nicht möglich sind.

In letzter Zeit hört man häufiger, im Gegensatz zum liebsten Benjamin-Zitat der alten Spontis, "immer radikal, niemal konsequent", daß eben gerade im hier interessierenden Zusammenhang aktivistischer Kunst und Kultur die Radikalität von der Konsequenz hergestellt werde. Diese müsse ja nicht essentialistisch, monokausal und irgendwie zentristisch hergestellt werden, sonden könne sich auch über dezentriert zustandegekommene Werke, Projekte etc. herstellen. Was wäre Konsequenz? Eine Stringenz des Transfers aus einer Wissens-, Handlungs-und Dartstellungsform in eine andere. Also etwa aus einem Bild in einen Satz, aus einer Überzeugung in ein Bild, aus einem künstlerischen Projekt in eine alltägliche Verhaltensweise. Hergestellt entweder durch ein bestimmtes, stringent-konsequentes Vermittlungsverhalten der Produzenten oder durch ein entsprechend präpariertes Werk. Einen solchen Anspruch habe ich gerne, auch im Einverständnis mit dem erwähnten Sponti-Benjamin-Spruch, als Terror einer nur umgedrehten instrumentellen Vernunft kritisiert und gerade in der Inkonsequenz den Freiraum verteidigt, den ein irgendwie subversives Individuum brauche.

Diedrich Diederichsen: 'An kulturellen Phänomenen lassen sich gesellschaftliche Entwicklungen ablesen. Aber gilt auch die Umkehrung?', Kritik 2/96, S. 45.

1 Titel der anläßlich der Jahresausstellung 1998 der Akademie der Bildenden Künste München gezeigten Installation Frieder Buhls.

2 Karl Heinz Bohrer, Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins, S. 76, Frankfurt am Main 1981.

Trotzdem bleibt die beunruhigende Frage: Kann man behaupten, daß es unter den heutigen institutionellen und disziplinären Bedingungen nicht mehr möglich ist, spezifische Arten von Kunstkritik oder künstlerischer Praxis als potentielle Instrumente einer sogenannten "Gesellschaftsveränderung" anzusehen, während man insgeheim doch an eine promesse de bonheur glaubt – eine Art unterdrückten Utopismus… manifestiert? Diese Frage kann jedenfalls nicht dadurch "gelöst" werden, daß man einfach ein Reihe alternativer künstlerischer und kritischer Praktiken, aktivistischer Strategien oder theoretischer Modelle präsentiert, die in irgendeiner Weise" effektiver" wären als ihre historischen Vorläufer. Nein, ich habe keine Kandidatenliste von Künstlern oder Kritikern für die nächste Avantgarde des "kulturellen Widerstands". Ein solches Manöver wäre nur eine weitere Nachschublieferung für den bestehenden institutionellen Apparat, der nach der administrativen und bürokratischen Herrschaft über diese Praktiken strebt, um sie in zugängliche "Informationen" zu verwandeln. Statt dessen ist es dringend nötig, die von jedem neuen Modell in Aussicht gestellte sofortige Befriedigung aufzuschieben.

Joshua Decter, 'Die Verwaltung des kulturellen Widerstands', Marius Babias (Hg.), Im Zentrum der Peripherie, S. 50-51, Dresden / Basel 1995.

Subversive Abweichung ist ein in jeder Ästhetik, jeder Kultur wie auch in jedem Selbst immanenter Faktor. Keine Formbildung ohne Abweichung. Keine Kultur ohne Gegenkultur. Aber auch vivce versa: keine Subkultur ohne kulturelle Dominanz. Der Kontrast taucht nicht mehr so krass auf, das heißt, daß die Unterschiede zwar nicht verschwinden, dafür um so feiner werden, denn Widerstand läßt sich nicht auslöschen.

Gegen(warts)kultur = Subculture vs. Mainstream.

Die Evolution subversiver Jugendkulturen, wie etwa die Bewegung der Achtziger in Zürich, zeigen, daß radikale Opposition und die Teilhabe am Betriebssystem Leben sich nicht ausschließen. Die "rote Fabrik" in Zürich ist seit über fünfzehn Jahren blühender Beweis dafür.

Ob Sub oder Norm, es geht nicht um strenge Polaritäten, eher vollzieht sich der Widerstreit als kontrolliertes Schwanken, das verschiedene, mehr oder weniger voneinanderentfernte Positionen berührt: Serres Fazit: "In einer Vielfalt, die von einfachen Pfeilen übersät ist, tritt die Abweichung an die Stelle der Neigung".

Das paßt zum Wissen um den Anfang unseres embryonalen Lebens, der eine elementare Wahrheit lehrt: Die Spermatozoen bedürfen der Gegenströmung, um den Eierstock zu erreichen. Das nennt man Opposition, Austausch und Ausgleich. Wer die Opposition negiert, verursacht tragische und traumatische Entwicklungen.
Paolo Bianchi: 'RadikalISMUS´, Radikale Bilder Band 1, Ausstellungskatalog, S. 161-162, Graz 1996.

Nach seiner (Peter Bürgers) Auffassung wurde mit der Erhebung banaler Dinge in den Status von Kunstwerken ursprünglich (also zum Beispiel bei Marcel Duchamp) die "Liquidierung der Werkkategorie" bezweckt und letztlich sogar die "Liquidierung der Kunst als einer von der Lebenspraxis abgespaltenen Tätigkeit". Im Laufe der Zeit habe sich allerdings gezeigt, daß die Künstler der Moderne derartig radikale Ziele letztendlich doch nicht erreicht haben. Alle ihre provokativen Gesten wurden von den Agenten des bürgerlichen Kunstbetriebes in einer perfiden Strategie repressiver Toleranz selbst wieder als Kunst sanktioniert und damit ihres eigentlichen umstürzlerischen Sinnes beraubt. So hat die Objektkunst ihre ehemalige revolutionäre Sprengkraft verloren: "Wenn heute ein Künstler ein Ofenrohr signiert und ausstellt, dann denunziert er damit keineswegs mehr den Kunstmarkt, sondern fügt sich ihm ein; er destruiert nicht die Vorstellung vom individuellen Schöpfertum, sondern er bestätigt sie. Den Grund dafür wird man im Scheitern der avantgardistischen Intention der Aufhebung der Kunst zu suchen haben."

Karlheinz Lüdeking: 'Die Verwandlung des Banalen', DINGE in der Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts, Göttingen 2000.

Das banale Objekt gewinnt durch seinen Eintritt in die Welt der Kunst eine ontologische Dimension, die einfache Dinge nicht haben können, da sie sonst einfach nicht länger bloße Dinge wären. Der Unterschied zwischen einer abgenutzten und verschmutzten Badewanne und dem Kunstwerk von Beuys liegt darin, daß letzterem ein Bedeutungsgehalt innewohnt, der gewöhnlichen Dingen fehlt. Die Badewanne, aus der das Kunstwerk besteht, unterscheidet sich von einem gewöhnlichen Bestandteil der Welt, weil sie Teil eines Systems der Verständigung über diese Welt geworden ist. Die Differenz zwischen Kunst und Realität ist also eine semantische.

Sobald ein altbekannter und vertrauter Gegenstand zum Kunstwerk wird und nun als Mittel der Verständigung über die Realität fungiert, tritt er in jene seltsame semantische Distanz zur Realität, die für die Welt der Zeichen typisch ist. Das Ding, das wir vor uns sehen, ist nicht länger nur ein gewöhnlicher Bestandteil der Realität, und insofern ist es trotz seiner handgreiflichen materiellen Präsenz gewissermaßen gar nicht mehr "real".

Dies kann man sich an einem Beispiel verdeutlichen, das Arthur Danto erfunden hat: "Wir können uns einen Jungen vorstellen, der eine weiße Murmel verloren hat, an der er sehr hing, und der in tiefe Melancholie versinkt, bis seine Mutter eine weiße Murmel findet, die die andere weniger ersetzt als ins Gedächtnis ruft: sie liegt in einem besonderen Schaukasten wie eine Reliquie und erinnert ihn an seinen verlorenen Schatz (es könnte sogar dieselbe Murmel sein, die er verloren hat)." Die zur Schau gestellte Murmel ist insofern keine "reale" Murmel mehr, als sie nur noch eine Realität bezeichnet, die sie selbst nicht mehr besitzt, obwohl sie in ihrer physischen Gestalt unverändert weiterexistiert und eine ebenso reale Murmel ist wie jede andere – und womöglich sogar genau dieselbe, deren Realität sie nun nur noch symbolisiert. Eine ähnliche Verwandlung geht mit allen Dingen vor, die aus der gewöhnlichen Realität in die Sphäre der Kunst überführt werden.

Karlheinz Lüdeking: 'Die Verwandlung des Banalen', DINGE in der Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts, Göttingen 2000.

… Er weigerte sich, auf die Zukunft zu sparen, und gab sich statt dessen dem genießen der Gegenwart hin. Im Augenblick der Kapital-Akkumulation, wo Zeit Geld wird , verspürte er den Druck der Zeit auf die Gegenwart, auf die Gestaltung der Gegenwart. " In jeder Minute werden wir von dem Begriff und Gefühl der Zeit erdrückt. Es gibt nur zwei Mittel, um diesem Alpdruck zu entgehen und um zu vergessen: das Vergnügen oder die Arbeit: Wählen wir!"Baudelaire wählte das Vergnügen. Ja schlimmer noch, er verdammte einen Eckpfeiler humanitärer Gesellschaftsordnung, die Nützlichkeit, weil er sie als Unterwerfung empfand. "Ein nützlicher Mensch zu sein, ist mir immer als etwas Abstoßendes erschienen". Die Unterwerfung der Menschen unter das Nützlichkeitsprinzip gehörte zum Programm der modernen Industriegesellschaft. Baudelaire wollte kein nützlicher Mensch sein, er hat sich gegen dieses Prinzip aufgelehnt, deswegen war er "böse".

aus Peter Weibel, Zu einigen Problemen bei der Konstruktion (einer Theorie) des Bösen. Erster Entwurf, in Das Böse, Steidl Verlag, Göttingen, 1997

Was ist das für ein Gefühl, eine Bank zu überfallen? Hattet ihr keinen Schiß?

Fritzsch

Nun, wir hatten damals schon vorher angefangen zu trainieren. Der Vorteil einer Bank ist, daß das etwas unglaublich Statisches ist, du also gut planen kannst. Du kannst alle denkbaren Möglichkeiten im Planspiel durchchecken. Was passieren könnte, was wäre wenn ...? Es ist ziemlich viel kalkulierbar, und so haben wir alles vorher durchgespielt. Wie verhältst du dich, wenn jetzt einer durchdreht oder ein alter Opa auf einmal mit dem Krückstock auf dich zukommt? Es kann ja immer passieren, daß da einer durchdreht, es gibt ja genug Verrückte.

Überhaupt gab es öfter Sachen, die die Knackis für uns ein bißchen vorbereitet haben. Einmal hatten wir sogar die Dienstanweisung einer Bank in den Händen, in der drinstand, daß alle Anweisungen bei Banküberfällen zu befolgen seien. Es ist wohl für die Bank teurer, einem angeschossenen Kunden lebenslänglich Rente zu bezahlen, als einmalig Geld zu verlieren, was sie durch die Versicherung sowieso wieder zurückkriegt.

Fritzsch

Das erste Kriterium waren die Fluchtwege. Wie kommst du aus der betreffenden Ecke wieder weg? Du kannst in der Wilmersdorfer Straße keinen Bankraub machen. Heute sowieso nicht mehr, du kommst vielleicht noch raus und stehst dann im Stau.

Reinders:

Wir haben die Lage der Banken auch daraufhin untersucht, daß wir bei der Flucht an eine Stelle kommen, an der ein Verfolger, also irgendeiner, der uns mit dem Auto hinterherfährt, nicht weiter kommt. Das war auch wichtig, um nicht schießen zu müssen. Also eine Stelle, wo wir zu Fuß rüber sind und wo wir einen zweiten Fluchtwagen hatten und der Verfolger dumm dasteht, weil er halt nicht über den Bürgersteig fahren kann oder der Durchgang zu eng ist. Das machten wir immer aus Sicherheitsgründen, denn keiner wollte auf der Straße auf einen schießen, der hinterherfährt.

Herrmann

Wie kamt ihr denn nun auf die berühmte Negerkuß-Idee?

Reinders

Die Bank Grüner Weg war für uns günstig. Wir hatten sie zwei Jahre vorher schon einmal gemacht, und da war viel Geld drin. 230 000 DM waren es. Deswegen hatten wir die im Auge, und es hatte sich auch nichts verändert. Und diese Negerkuß-Idee kam durch die Geschichte in Stockholm12.

Nach Lorenz war eigentlich eine positive Stimmung für uns da gewesen. Aber nach Stockholm ist alles ein wenig ins Kippen gekommen. Durch diese Propaganda, daß wir auch gegen einfache Leute vorgehen würden, wurde eine Stimmung erzeugt, in der sich die Leute bedroht fühlten. Es hieß doch immer, Blumenfrau Heike wird jetzt als nächste entführt, und das ist das gleiche wie bei Lorenz. Und so haben wir überlegt, dieser Propaganda etwas entgegenzusetzen. Wir wollten damit auch demonstrieren, daß wir noch da sind, und daß die Kunden von uns eigentlich nichts zu befürchten haben. Die Leute haben die Negerküsse nicht gegessen. Das war vielleicht auch ganz gut, denn das waren ganz miese Dinger. Das war ein Blitzeinkauf bei Woolworth. Die waren total alt.

…Herrmann

Wie haben die Leute denn auf die Negerküsse reagiert?

Reinders

Einmal wurden sie von einer Frau verteilt (Grüner Weg). Da kam hinzu, daß ein Kind beruhigt werden mußte, eine Zwölfjährige, die fürchterlich geheult hatte. Auf die haben wir ein bißchen eingeredet, bis sie ruhig war. In Schmargendorf haben sie die zwar auch genommen. Aber die Leute blieben trotzdem starr vor Schreck, das ist ja das Problem, die sind ja erstmal total verschreckt.

Wir sind von RAF-Seite für diese Sachen ziemlich heftig kritisiert worden. Ab diesem Tag waren wir die populistische Fraktion. Es würde uns nur noch auf Populismus ankommen, wir würden die Sache nicht mehr ernst nehmen.

Herrmann

Und wie seid ihr darauf gekommen, ein Flugblatt mit eurem Konjunkturprogramm zu verteilen?

Reinders

Ja, wir dachten, es reicht nicht, einfach Negerküsse zu verteilen. Wir wollten nach den ganzen Festnahmen auch zeigen, daß wir noch da sind. Die Stimmung in der Linken war schwankend, ein Hin und Her, Hoch und Tief. Und nach den Festnahmen dachten viele, es lohnt sich alles sowieso nicht, es werden ja doch alle festgenommen. Darum mußten wir zeigen, daß wir noch da sind. Es war auch schon eher ironisch gemeint.

Reinders:

Ausschlaggebend war die Geschichte in München, wo der Rammelmeier beim Banküberfall eine Bankangestellte als Geisel genommen hat, die dann erschossen wurde. Wie es hieß, habe er sie erschossen, aber es waren die Bullen. Danach war in den Banken die Stimmung absolut so: Hoffentlich kommen die Bullen nicht! Das meinte ich vorhin, als ich sagte, daß die Kriminellen uns auch ein wenig den Weg bereitet haben, weil die Sachen gemacht haben, die wir nie gemacht hätten. Insofern hatten die Leute mehr Angst. Und dann stehen auf einmal fünfe drinnen! Da blicken die nicht mehr durch. Sonst werden sie ja in der Regel von einem überfallen, höchstens von zweien. Und bei fünfen springt plötzlich einer hinten in den Kassenraum, der andere steht hinten am Fenster, sichert das Fenster ...

Herrmann

Was auf der begrifflichen Ebene auffällig ist: Ihr grenzt euch gegenüber Kriminellen ab, in der Presse werdet ihr als Terroristen bezeichnet. Als was habt ihr euch denn begriffen?

Fritzsch

Terroristen? Den Begriff würd' ich mir verbitten. Terroristen, die sind auf der anderen Seite. Terror ist undifferenzierte Gewalt, und undifferenziert haben wir Gewalt nie eingesetzt.

Reinders:

Und wir haben ja keine kriminellen Sachen für uns gemacht. Das ist der Unterschied zu den Kriminellen. Die machen halt 'ne Bank, weil sie schön leben wollen und wir brauchten halt Knete, um politisch weiter arbeiten zu können. Was bezüglich der Banküberfälle heute oft untergeht, ist, daß wir damit viele legale Projekte finanziert haben. Zum Beispiel ist die Chile-Kampagne nach dem Pinochet-Putsch fast ausschließlich von uns finanziert worden. Wir waren die einzigen, die schnell Geld zur Verfügung hatten und haben die Zeitungen und all diese Betriebsgruppen und Flugblätter finanziert. Also nicht alle, aber die größeren Projekte. Davon gibt's genug Beispiele. Die Leute, die das Geld entgegennahmen und die Zeitungen machten, waren dann später oftmals unsere erbittertsten Feinde, die die bösesten Sachen über uns erzählt haben.

Das Modewort ›Crossover‹ ist letztlich der Ausdruck einer Selbstbegründungskrise der Kunst. Weder eine kohärente Vergangenheit noch eine utopische Zukunft standen Anfang der Neunziger zur Verfügung. Weder wollte man visuell eine Gegenwelt aufzeigen wie in den sechziger Jahren, einer Affirmationsstrategie nachgehen wie in den siebziger noch die Kunst als Ware thematisieren wie in den achtziger Jahren. Als Möglichkeit blieb die Strategie der Mode und Werbung, eine radikale Finalisierung des Fiktiven bei gleichzeitiger Koppelung an reale Prozesse des Konsums bzw des Kapitals. Teilweise flüchteten die Künstler auch in die Wissenschaft und die Geschichte politischen Widerstands, weil dort ein ähnliches Nebeneinander von Fiktivem mit realen Durchsetzungsmöglichkeiten herrscht.

Michael Hofstetter: Kunst und Mode. Ein Manifest, 1998.