2012 Verena Frensch Retable III

 

Michael Hofstetter, 2012

 

„Retable 2012” / I, II, III, 2011/2012 / Verena Frensch

 

Wir alle kennen den Isenheimer Altar. Wahrscheinlich wissen wir auch, dass er von Matthias Grünewald gemalt worden ist. Vielleicht auch, dass er in Colmar steht. Und dass fast zeitgleich mit der Vollendung des Altars, 1517 Luther seine 95 Thesen an die Wittenberger Kirche schlug und Raffael seine Sixtinische Madonna malte.
Doch stehen wir heute vor dem Altar, sind wir mit unserem Latein schnell am Ende. Viel mehr als Jesus und Maria, vielleicht noch Maria Magdalena und den heiligen Sebastian würden wir wohl nicht mehr erkennen. Ganz zu schweigen von der Bedeutung der Gegenstände und Pflanzen. Wir gehen noch in dieselben Kirchen – wenn auch nur noch als Connaisseure –, hören noch dieselbe Liturgie und feiern noch dasselbe Kirchenjahr, auch wenn die Feiertage nicht mehr wissen, was gefeiert wird. Wir sind noch Teil derselben symbolischen Ordnung wie damals, aber ihre Bedeutung kennen wir nur noch vage. Schon deshalb ist es ein mutiges Unterfangen von Verena Frensch, den Isenheimer Altar in die Jetztzeit zu übersetzen.

Wie wollen wir eine Übersetzung lesen, wenn wir nicht einmal das Übersetzte kennen? Verena Frenschs Neufassung des Altars zielt auf das Problem von zeitgenössischer Kunst überhaupt: Sie, die Kunst, kennt nicht mehr ihren eigenen Horizont. Sie verdammt uns zu Oberflächenconnaisseuren und Psychodeutern. Wir akzeptieren nur noch Lifestyle-Design oder eine radikale subjektive Obsession. Großartig, weil trend-setting, wenn beides zusammenfällt. Alles andere empfinden wir als Beleidigung unseres Narzissmus.

Frensch kennt die Fallhöhe und spielt mit ihr. Sie entkoppelt die Altarbilder von ihrer ursprünglichen Bedeutung – nimmt sie vom Altar, setzt sie auf dem Boden und entbindet sie so von der Aufgabe der Verkündigung. Ohne Altartisch und nicht mehr als Wandelaltar, sondern isometrisch im Raum hintereinander inszeniert, sind sie nun hypothetische Setzung und Einladung zur Reflexion. Gleichsam säkularisiert, wie im Musée d’Unterlinden in Colmar selbst, changiert der Altar zwischen historischem Zeugnis und autonomen Bild.

Indem Frensch die heiligen Figuren durch Pop-Ikonen und Celebrities aus Politik, Musik und Psychologie ersetzt – im dritten Altar übernimmt Jacques Lacan den Platz des heiligen Antonius, der von den Versuchungen des Teufels heimgesucht wird – spielt sie auf bravouröse Weise mit der Kanonik unserer Bildung und deutet diese als phallisches Trauma paternalistischer Autorität. Wer könnte jetzt noch verlangen, dass wir die ikonografischen Bedeutungen der abendländischen Personae kennen sollten. Vorsicht! Es könnte sein, dass wir dabei ewiger Patient bleiben.

Frensch weiß auch, dass jede bildnerische Setzung ihr „Aus“ in der Objektivität hat. Eben weil es keinen verbindlichen Horizont mehr gibt, in dem ein künstlerisches Werk sich selbstverständlich einbettet; weil es kein Außen mehr gibt, das nicht durch ein anderes Außen relativiert oder dekonstruiert werden könnte. Frensch unterläuft diese mögliche Fremdrelativierung durch Selbst­relativierung. Das ursprünglich zweite Altarbild – aufgeklappt an Sonn- und Feiertagen, Weihnachten und Ostern – zeigt das Leben Christi: Verkündigung, Niederkunft/Geburt, Auferstehung, gehalten von einer Predella, die die Grab­legung darstellt.

Frensch ersetzt diese Heilsgeschichte durch ihre Geschichte. Nicht als lineare Erfüllung der Fleischwerdung Gottes, nicht als Erfüllung alttestamentarischer Prophezeiung, sondern als Möglichkeit im Unmöglichen oder als Unmögliches im Möglichen. Zweimal montiert sich Frensch in ihren Altar. Einmal als Schwangere und gleich daneben, sie mit ihrem Baby in grüner Keimschutzgaze, wie sie auf Intensivstationen verwendet wird. In dieser Doppelung liegt eine ungeheure Spreizung. Die schwangere in Purpur gehört nicht zur selben Sphäre wie die Niedergekommene im grünen Gazepanzer. Zwischen diesen beiden Frauenbildern entspannt sich das ganze Altarbild. Das Leben von Verena Frensch ist hier als Mosaik aus tausend Fragmenten dargestellt. Die einzelnen Teile sind nur lose miteinander verbunden. Heil und Unheil, Gelungenheit und Misslingen, Leben und Tod scheinen austauschbar und nur das Ergebnis einer zufälligen Kombinatorik. Wen wundert es, dass ihre Auferstehung nur mit einem Dolly Buster Verschnitt aus Plastik, vor einer Samenbedrängten Eizelle wiedergegeben werden kann. Alles hätte auch ganz anders laufen können, wäre die Subjekt-Objekt-Trennung der Verkündigung Mariä – bei Frensch dargestellt mit zwei Modepuppen mit Down-Syndrom – eine freudige Verschmelzung, wie wir sie von den asiatischen Erotikbildern her kennen. In dieser symbolischen Ordnung muss wohl niemand am Kreuz sterben, um die Menschheit zu erlösen. Aber Genaues weiß man hiervon auch nicht.

Frensch staffelt im linken Altarflügel drei unterschiedliche Räume hintereinander. Vorne der Paravant mit der chinesischen Kopulationsszene, in der der Weltenraum als ständiges Ineinanderfließen dargestellt wird. Dahinter der dekonstruktivistische Raum von KoopHimmelblau (Neubau der Akademie München), in dem die Verkündigung als Riss zwischen Wort und Fleisch sich ereignet. Und als Raum im Raum der Monitorraum mit dem Ultraschallbild des Fötus im Mutterleib, sozusagen als bildgewordenes Wort.

Der Paravant mit der Liebesszene aus der Ming Dynastie zitiert die Vorhang-architektur des referenten Isenheimer Altars. Grünewald hat mit solchen Bildraumteilern ein raffiniertes Spiel von Verdoppelung und Parallelität, von
Diesseits und Jenseits, inszeniert. Frensch übernimmt diese Rauminszenierungs­strategie. Auf der mittleren Tafel wird der Vorhang, vor dem das Engelskonzert stattfindet, zum Sternenhimmel. Der Glorienschein der erwartenden Maria und eine Fruchtblase sind die beiden Planeten in diesem All. Aus der Frucht­blase strömt das Engelskonzert. 23 Geistwesen prozessieren durch eine Fernsehdekoration aus Gotikelementen, Abrissteilen und Fraktalen auf den Betrachter zu: Viktoria’s Sectret Models, Gay Angels, Weihnachtssängerinnen, geflügelte Erotik-Dessous-Models, Anne-Geddes-Putten, Emu-Kids, Gothic Anhänger und Angelina Jolie. Der Rauch eines brennenden Ölfeldes teilt auf der rechten Seite das Bild in Diesseits und Jenseits. Dieser schwarze Nebel wird dann in der linken Tafel zum Sternenhimmel. Davor das Zeichen für Unendlichkeit vertikal als 8. Ein Spiel mit der Funktion von Zeichen, als Symbol und als Nomen. Dieses Spiel durchzieht die ganze Arbeit; es ist eine weitere Strategie der Entobjektivierung. Das obere Rund ist eine Sonneneizelle, an der die Spermien anklopfen; das untere Rund der Maya-Kalender. Nach diesem geht mit dem 21.12.2012 die Welt unter.

Auch der Isenheimer Altar war ein Endzeitaltar. Das Kloster Isenheim war damals ein Krankenhaus und Hospiz für Patienten, die an Pest, Cholera, Lepra, Syphilis erkrankt, ausgestoßen und dem Tode geweiht waren – aber auch ein Ort, an dem Wahnsinnige gepflegt wurden. Der Altar sollte Trost und Hoffnung für die Kranken sein und in gewisser Weise auch eine Rechtfertigung, warum der allmächtige Gott soviel Leid auf Erden zulässt. Diese Frage wird seit Leibniz unter dem Begriff der Theodizee diskutiert, war aber schon bei den Griechen aktuell. Im zwanzigsten Jahrhundert verschob sie sich, ganz dezidiert bei den abstrakten Expressionisten, zu der Frage: Darf man angesichts des Leids auf der Welt schöne Bilder malen? Bei Frensch wird diese Frage durch die zweite Predella, in der die Mark Rothko Chapel in Houston gezeigt wird, zur Selbstbefragung des Altars.

Das Isenheimer Kloster wurde von dem Orden der Antoniter geführt. Der heilige Antonius, auch Antonius der Große genannt, war christlich-ägyptischer Mönch, Asket und Einsiedler. Gemäß ihrem Patron waren die Antoniter Bettelmönche und, wie man unschwer nachvollziehen kann, keine Anhänger des dekadenten Roms. Mit Grünewald – in seinem Nachlass fanden sich u. a. 27 Predigten Luthers – gewannen sie einen Künstler, der ihre Ansichten teilte. Der Isenheimer Altar ist eine bildliche Vorwegnahme dessen, was später der Protestantismus an der römischen Kirche auszusetzen hatte. Leit- und Vorbild ist der heilige Antonius, der auf vier verschiedene Weisen im Altar auftritt.

Frensch sucht in ihrer Fassung schon gar nicht mehr nach positiven Vorbildern in der Kirche. Für sie gibt es keine mehr. In ihrer ersten Schauseite zeigt sie an Stelle des Antonius eine Zwittergestalt in Ineinanderblendung von Bischof Mixa und Bischof Schwarz. Der heilige Sebastian wird als Ministrant wiedergegeben. Den Bezug von Bischof und Ministrant lädt sie über die beiden Fensterdarstellungen so auf, dass hier ein latenter Missbrauchsvorwurf im Raume steht. Überhaupt sind die beiden Fenster bei Frensch der eigentliche symbolische Ort des Gesche­hens. Hinter dem Bischof ein bleiverglastes Kirchenfenster der fünfziger Jahre mit einem um einem Lebensbaum ekstatisch tanzenden (oder Hilfe suchenden) Kind. Hinter dem Ministrant ein zerbrochenes Zimmerfenster mit Blick auf eine romantische Landschaft. Eine treffende Allegorie der Wunde als zerbrochene Seele. Frensch mixt auf sub­tile Weise die gegebenen Elemente aus dem Isenheimer Vorbild und dreht die Kategorien um: Aus dem lasziv leckeren heiligen Sebastian wird eine depressive Leere und aus dem asketisch demütigen Kirchenvater eine feist protzende De­monstration von Macht. Sind die beiden Seitenflügel noch in ihrer Neudeutung durch eine subtile Beobachtung des pervertierten Zusammenhangs zwischen Kirche, Glauben und Dienen gekennzeichnet, ist der Mittelteil eine Übersetzung von phantastischer Genauigkeit und brillanter Analytik. Christus als nackte Anorektikerin: Überbestimmung und Unter­be­stimmung in Einem, die vollständige Fleisch­werdung Gottes als radikale Askese. Frensch bringt den Doublebind von Leib­werdung und Leibächtung der Christusfigur auf den Punkt und zieht die Linie in unsere Zeit. Magersucht als die radikale Selbstaufgabe zugunsten aller möglichen Fremdeinschreibungen: Die Heilige ist das Model von heute. Die Personengruppe unter dem Kreuz: Johannes der Täufer als Steve Jobbs, der Gründer von Apple (dessen Logo passender Weise der angebissene Apfel ist).

Maria Magdalena, das Bindeglied zwischen Maria und Eva, erst ab dem 12. Jh aufgestiegen zur Zeugin der Kreuzigung, eine männliche Wunschphantasie konsequenterweise hier gleich ganz männlich: Manager mit Kokstasche. In seltsamer Verkehrung stützt Maria Johannes, dabei hatte der Lieblingsjünger doch eigentlich den Auftrag, sich um Jesus’ Mutter zu kümmern. Fast eine Pieta mit vertauschten Rollen. Das Model in der Rolle Mariens bildet durch die rote Kleidung mit Maria Magdalena und Johannes dem Täufer eine Dreieckskomposition, während Johannes, die Klonschafe Dolly als blutende Opferlämmer und der gekreuzigte Jesus das Gegendreieck bilden. Mehr muss man dazu eigentlich nicht sagen.

In Predella mit der Grablegung Jesu begegnen wir denselben Personen nochmals: Maria, Maria Magdalena und Johannes. Steve Jobs hat jetzt die Seite gewechselt: Er ist vom Ankünder zum Verkünder geworden. Eine kleine Reminiszenz an die Geschlossenheit des Systems, in dem wir uns befinden. Die beiden Marias sind mit neuen Models besetzt. Maria Madgalena ist jetzt weiblich und weiß gekleidet, während Maria die Mutter von Jesus männlich und in Schwarz wiedergegeben wird.

Im referenten Altar von Isenheim ist diese Predella mit Grablegung Jesu der ersten und zugleich zweiten Schauseite zugeordnet. In der Präsentation als Wandelaltar war diese Kombinatorik möglich. In der Staffelung der drei Schauseiten in einem räumlichen Hintereinander ist sie es nicht. Frensch benutzt diese Leerstelle nun, um eine neue Predella zu erfinden, eine abstrakte Malerei aus grauen und schwarzen Flächen; das Blow Up des öligen Bodens vom Mittelteil offenbart das Medium, aus dem der ganze Altar ist: Schlecht aufgelöste Bilder aus dem Internet, denen ein Rauschen inherent ist.

In der dritten Schauseite löst sich Frensch am weitesten vom originalen Altar. Diese Schauseite hat in der Isenheimer Fassung das Leben von Antonius zum Thema und wurde auch nur am Namenstag, dem 17. Januar jeden Jahres, gezeigt.

Frensch stellt im linken Flügel Richard Fuld von den Leeman Brothers, die die Finanzkrise von 2008 ausgelöst hatten, zusammen mit einem farbigen Obdachlosen in ein Schlafmohn- und Cannabisfeld. Die Natur geht über in eine Wabenarchitektur. Diese Hybridformen zwischen Natur, Objekt und visualisierter Mathematik verbinden sich mit den Brokkoli-Formen, der Fraktaldarstellungen von Mandelbrot auf der zweiten Schauseite und der islamischen Architektur der Sheyk Zhayed Moschee von Abu Dhabi im Mittelteil der dritten Schauseite. In dieser Moschee lässt Frensch die Kirchen-, Politik- und Revolutionsväter von heute auftreten: Papst Johannes Paul II. auf Großbildleinwand, Bernard Henri-Lévy, der Pop-Philosoph und Staatsberater Frankreichs, nebst einem libyschen Freiheitskämpfer. Daneben ein Obdachloser und ein Dessousmodel als Melusinenfigur. Im rechten Flügel werden die Versuchungen des heiligen Antonius zu Begehrensobjekten und Gachets, die uns zur Erfüllung helfen. Lacan, der geistige Vergolder dieser „Sinthome“, wie er sie wortschöpfend nennt, liegt inmitten von ihnen. Seine Hand auf dem brillantüberzogenen Totenschädel von Damien Hirst zieht alle Sinnfäden zusammen. Und stellt auch die Frage, wie heute Kunst aussehen könnte jenseits fetischierter Ware?