Michael Hofstetter:
Working For Paradise, 1992

Einführungsvortrag an der Akademie der Bildenden Künste
im Rahmen des Lehrauftrages Technologie als Ideologie – Über das Verhältnis von Medium und Bild

 

 

 

 1      Totalität des Zeichens - Beschränktheit des Bezeichnens

 2 Normalerweise, meine Damen und Herren, liebe Studenten und Studentinnen, sprechen wir, wenn wir über Malerei reden, über das Malerische, wenn wir über Fotografie reden, über das fotografische, wenn wir über Computer reden über Darts per inch, die Auflösung des Bildschirms, seine Speicherkapazität usw. Wir sprechen jedesmal über den technischen Aspekt einer Sache, wenn wir über die Sache selbst reden wollen; ja selbst wenn wir über unsere Liebesbeziehung reden, sprechen wir über das beziehungstechnische und geben dem ganzen Gemisch aus Alltagserfahrung und Psychologie den Namen Beziehungskiste. Dieser technische Aspekt ist jedesmal die Wirklichkeit des in unserer Rede addressierten Sachverhaltes.

 3 Diese Wirklichkeit ist eine Wirklichkeit in der Wirklichkeit unseres sonstigen Lebens und neben der von anderen Spezialwirklichkeiten, in denen wir uns kompetent fühlen. Wir leben in einer Welt mit vielen unterschiedlichen Kisten, die alle für sich selbst Wirklichkeit sind und alle in der großen Kiste Welt stehen. Zum Teil sind diese Kisten auch in andere größere Kisten geschachtelt, wobei diese dann in der Kiste: Welt stehen. Auf diese Weise schachteln sich verschiedene Wirklichkeitskisten ineinander oder stehen in einem engen Feld nebeneinander.

Meine Kiste (um bei diesem Spielzimmerblick auf die Welt zu bleiben) für dieses Seminar ist weder die Kiste: Malerei, die Kiste: Skulptur, die Kiste: Graphik, noch die Kiste: Fotografie, die Kiste: Computer, oder die Kiste eines anderen Mediums, sondern meine Kiste ist die Wirklichkeit der Kiste selbst und wie diese sich zur Wirklichkeit der Welt verhält.

Dieser Verschachtelung von Welten in der Welt bzw. von unterschiedlichsten Subsystemen in anderen Subsystemen und diese wiederum alle in einem Hypersystem liegt ein apparativer Blick auf Welt zugrunde. Dieser apparative Blick bzw. das aus diesem Blick resultierende Bewußtsein ist das Thema dieses Seminars. Es geht dabei um das Verhältnis von Mensch-Apparat-Bild. Wobei Bild weder das malerische, noch das skulpturale, noch das fotografische meint, sondern ganz allgemein Das Vorstellen von Wirklichkeit.

 4 Demonstriert wird dieses Verhältnis von Mensch-Apparat-Bild am Beispiel der Fotografie um dann von der Fotografie über den Film ganz allgemein zur Frage nach dem Verhältnis von Mensch Technik und Bild zu gelangen.

In dieser Einführung möchte ich zuerst auf die philosophischen Hintergründe der Fotografie eingehen und eine grobe Skizze entwerfen, welche geschichtlichen Veränderungen diese Erfindung im 19. Jahrhundert ermöglichten. Dieser Skizze liegt ein konkretes von mir konzipiertes Werk mit dem Titel "PARADISE" zugrunde, das ich letztes Jahr in New York für das MUSEUM OF NATURAL HISTORY entworfen habe, aber nicht verwirklichen konnte. Auf diese Weise führe ich nicht nur in das Seminarthema ein, sondern stelle Ihnen auch meine künstlerische Arbeitsweise vor. Der weitere Verlauf dieses Seminars wird folgendermaßen aussehen. Nächste Woche werden wir nochmals am Freitag, den 18. 12. 92 um 15. 00 hier treffen, um zusammen ein Blockseminar im Januar vorzubereiten. Inhaltlich beginnen wir mit den Büchern " DIE SCHRIFT" und "FÜR EINE PHILOSOPHIE DER FOTOGRAFIE" von Vilém Flusser. Dabei werde ich das Linguistische System von Saussure und die von ihm verwendeten Begrifflichkeiten vorstellen, um dann diese in Relation zur Fotografie bringen. Danach werden wir einige Aufsätze von Marshal McLuhan Buch "DIE MAGISCHEN KANÄLE" lesen und das Verhältnis von Apparat und Körper herausarbeiten, um dann dieses Verhältnis in seiner kulturhistorischen Bedeutung anhand des Motives von Orpheus und Eurydike rückzuvermitteln. Hierbei werden wir gleichnamiges Buch von Klaus Theweleit durcharbeiten und einige Aufätze von Friedrich Kittler. Sofern die Zeit reicht, werden wir am Ende dieses Semester dann den Aufsatz von Heidegger TECHNOLOGY ALS IDEOLOGIE lesen und dann die Begriffe " Gehäuse", "Mode", "Posthistorie" und "Nomadentum" bei Walter Benjamin erarbeiten. Den Abschluß dieses Seminars bildet der Film "SHOAH" am Ende des Sommersemesters 1993. Dieser Film reflektiert wie kein anderer die politische Dimension des Aufnahmeapparates. Hierin vereinigen sich alle bis dahin erarbeiteten Problemfelder und werden zeitgeschichtlich und politisch reflektiert.

Da ich nur die hier abgeleisteten Stunden, aber nicht meine Vorbereitungszeit bezahlt bekomme, ist es mir leider nicht möglich, dieses geplante Programm Ihnen in Form von Vorträgen wie diesen hier darzubieten. Dennoch werde ich noch mindestens zwei Vorträge in diesem Semester halten. Der erste Vortrag hat das Thema "ARBEIT MACHT FREI" und wird das Verhältnis von der Walter Benjaminschen Gesellschaftsanalyse und dem Faschismus beleuchten. Den zweiten werde ich zum Thema "MODELL" halten. Ich beteiligte mich kürzlich zu diesem Thema an einer Gruppenausstellung. Den dieser Ausstellung zugrunde gelegten Modellbegriff halte ich als künstlerischen Werkansatz für hochbrisant und dies nicht nur wegen seiner konzeptuellen, sondern auch wegen seiner politischen Implikationen.

ZUM HORIZONT DER BEGRÜNDUNG VON FOTOGRAFIE

 

 5 Vor sechshundert Jahren tobte hier in Mitteleuropa ein Streit unter den damaligen Gelehrten, der uns als Universalien,- oder wegen seines Ausgangs, als Nominalismusstreit überliefert ist. Dieser Streit und sein Ausgang bestimmte von da an bis zum heutigen Tag das Bild, das wir uns von der Welt machen. Er war viel grundlegender als die Erfindung der Buchdruckkunst oder die der Fotografie. Ja, ohne ihn wäre es unmöglich gewesen, daß wir heute die Welt digitalisieren und aus den digitalen Informationen Welt bzw. Bilder von der Welt neu computieren. Der Ausgang dieses Streites besiegelte die Vertreibung aus dem Paradies buchstäblich schwarz auf weiß.

 6 Die Frage, die dieser Streit auslöste war, in welchem Verhältnis der Name zu den Dingen, das Zeichen zum Bezeichneten bzw. um den damaligen Wortgebrauch verwenden, die Ideen zur Wirklicheit stünden? Zu der damaligen Zeit, dem sogenannten Mittelalter, herrschte hinsichtlich der Wirklichkeits - und Weltvorstellung die Meinung, ja der Glaube, nur Ideen seien wirklich, Universalia sunt realia. Dieser unspezifische Glaube forderte einige spitzfindige Philosophen heraus, die nun genau wissen wollten, wie "wirklich" denn die Ideen seien. Ob die Ideen den Dingen vorgelagert, oder ob sie in den Dingen selbst, oder ihnen gar nachgelagert wären. Ob sie also den konkreten Dingen in ihrem Range und der Ursache nach vorstünden, oder in den Dingen als wahres Wesen enthalten, oder ob der Mensch sie von den Dingen abziehen würde, d.h. also bloße Verstandesschöpfungen seien. Diese letzte Ansicht genannt Nominalismus gewann den Streit.

 7 Einer ihrer wichtigsten Vertreter war Wilhelm von Occam, doctor singularis, venerabilis inceptor und doctor invincibilis. Nach ihm ist die Occamstrasse drei Straßen nördlich von hier benannt. Dies ist deshalb erwähneswert, weil er im Grunde genommen der Erfinder der Straßenschilder war. Mit dem Sieg der Ansicht von Wilhelm von Occam trennte sich das Zeichen von dem Bezeichneten und verselbständigte sich, so wie sich im 19. Jahrhundert dann mit der Erfindung der Fotografie das fotografische Abbild als Bild verselbständigte und nicht mehr an den Raum und an die Zeit gebunden war, in denen es sich erstellt hatte.

Was für eine radikale Umwälzung diese Emanzipation des Zeichens von dem Bezeichneten bedeutete, läßt sich sehr einfach am Schöpfungsmythos, der zu dieser Zeit unbezweifelbare Realität darstellte, zeigen. Vilem Flusser entschüsselt den Schöpfungsmythos als die Kennzeichnung des Beginns vom Schreiben. Er schreibt:

 8 "Es läßt sich....darin der Ursprung des Schreibens erkennen. Der mesopotamische Lehm (Lehm= hebr. adamah), von dem der Mythos erzählt, wird darin zu einem Ziegel geformt, der göttliche keilförmige Stilus (Odem) gräbt in ihn, und so ist die erste Inschrift (der Mensch) geschaffen worden. Gott hat also nichts anderes gemacht als einen Gegenstand (Lehm) in seine Hand genommen (hat ihn begriffen), dann hat Er ihn zu einem Parallelepiped umgeformt (Er hat gearbeitet), und schließlich hat er ihn in-formiert (Er hat Formen eingegraben)." Zum Schluß hat Er den informierten Ziegel gehärtet und gebrannt. Auf diese Weise waren Zeichen und Bezeichnung, Name und Dinge, Bedeutung und Gegenstand auf untrennbare Weise miteinander verbunden und bildeten eine Einheit. Diese gottgebene Einheit, dieser Bund zwischen Name und Ding, wurde im Nominalismusstreit zerbrochen. Nun war der Weg frei für die Möglichkeit des Menschen, die Dinge neu zu informieren.

 9 Doch ach, schon mit der Morgensonn

    Verengt der Abschied mir das Herz.

    In deinen Küssen welche Wonne!

    In deinem Auge welcher Schmerz!

Mit dem Nominalismus verkürzte sich Welt auf das einzelne Subjekt. Sie, die Welt, ist nur noch erfahrbar durch seine subjektive Leistung sie wahrzunehmen. Die Physiologie des Auges steht nun im Zentrum der Fähigkeit zur Weltaneignung. Fortan an gilt der Satz: " Nihil est in intellectu, quod non prius fuerit in sensu" (Im Verstande ist nichts, was vorher nicht in den Sinnen war). Dieser Satz, obwohl erst viel später von Locke ausgesprochen, war das Ergebnis des Ausgangs des Nominalismusesstreits und etablierte in seiner Konsequenz den bis heute andauernden Antagonismus von Subjekt und Objekt, von Blickpunkt und Fluchtpunkt.

 10 Doch die Erfahrung des Menschen, vorallem seine Glaubens- und Gotteserfahrung, war größer, als das, was er mit seinen Sinnen wahrnahm. Hierüber setzte ein Zweifeln ein, ob das, was er sähe, höre, rieche, schmecke, taste, auch die Wahrheit sei oder nur ein bloßer Schein.

 11 Der Mensch fing an, seine Sinnesleistung zu überprüfen und deduzierte alles bis auf seinen letzten Grund. Dieser letzte Grund bzw. letzte Gewißheit war am Schluß er selbst. Der Satz Descartes vom "Cogito ergo sum" war das Ende des Umbruchs vom Mittelalter zur Neuzeit. Er war das radikale Ergebnis aus einer Verbindung von Sinnesleistung und logischer Rationalität. Das denkende Subjekt kann sich selbst beim Denken beobachten und dabei zu sich selbst ein Objekt-Verhältnis einnehmen. Ich denke mich, also bin ich, also ist überhaupt etwas. Das gab der menschlichen Erkenntnis, die allein auf der sinnlichen Erfahrung von Welt beruhte, die Sicherheit wieder, die der Mensch durch den Wegfall des Glaubens an Gott verlor und nun von sich forderte.

 12 Die Subjekt - Objekt - Spaltung des Nominalisten erweitert sich hierbei zur Geist - Körper Spaltung des Rationalisten. Diese Selbstsetzung des menschlichen Geistes als letzte und einzig sichere Instanz bei gleichzeitiger Abtrennung des Körpers und dessen Einreihung zu der restlichen Dingwelt war nun die Voraussetzung für eine ungeheure Entwicklung in der Wissenschaft und die Geburtsstunde der Technik. Hier erfand sich der menschliche Leib als Apparat. Indem er methodisch verbesserte Modelle seines Körpers nachbaute und diese aus sich auslagerte, stellte er Maschinen her, die ihm halfen, die Welt in Besitz zu nehmen und über sie zu herrschen.

 13 Hier nun bekam die Camera Obscura ihre epistemologische Bedeutung. Sie war der ausgelagerte Sehapparat des Menschen. An ihr vollzog sich Wahrnehmung methodisch sauberer und radikaler und autonom, d.h. unbeeinflußt durch irgendeine emotionale Einschränkung des Menschen. Sie war nun der fiktionale Umschlag von Welt und damit der Ort von Erkenntnis.

 14 (Vor dem Nominalistenstreit war dieser Punkt in Gott, nachher im Menschen und nun ist er als Apparat in der Welt. - Wir werden diese Verschiebung des Weltbrennpunktes in der letzten Sitzung dieses Semesters anhand des Computers behandeln. Dort werden wir sehen daß dieser Punkt wieder heute bei Gott ist, so wie in der Weltauffassung des Islams).

 15 Die Camera Obscura als ausgelagertes Sehorgan des Menschen erweiterte diesen in die Welt hinein, bei gleichzeitiger Beibehaltung der Grenze zur Welt. Innen und Außen als Bezeichnung von Seele und Welt wurde nun zu Interieur und Exterieur. Der Raum der Camera war ein anderer als der der Welt, obwohl er zu ihr gehörte. Der menschliche Wohnraum erlangte dadurch eine Stellung, die sich gleichberechtigt aber antagonistisch zur Welt verhielt.

 16 Im Laufe der Jahrhunderte wurde die Bedeutung des Wohnraums immer größer, bis er im 19. Jahrhundert zeitgleich mit der Erfindung der Fotografie die Außenwelt völlig ablöste und sie fiktional ersetzte.

 17 Als der Mensch dazu überging, seine psysiologischen Werkzeuge zu amputieren und als autonome Maschine bzw. Apparat nachbaute, ging es ihm darum, eine größere Kontrolle bzw. Überprüfung seines erkennenden Tuns herzustellen. Dies konnte er nun viel besser, weil er nun hinter dem Apparat und nicht im Apparat stand. Der Apparat wurde quasi zum Fegefeuer für die sich von gottgegebener Ordnung emanzipierten Menschen.

 18 Hier verobjektivierte sich durch die Stringenz und Unerbittlichkeit der Methode und durch die Möglichkeit der rationalen Überprüfung durch den Menschen die an Sinneswahrung gebundenen und deshalb subjektive Weltsicht. Im Apparat wird die Welt subjektiv und der Mensch objektiv. Der Mensch bekam ein analytisches Verhältnis zu seiner Umwelt. Sein Blick separierte, selektierte und katalogisierte die Dinge der Welt und die Mitmenschen. An diesem Blick sexualisierte sich der Mensch.

 19 Der Mann, als Erfinder des Apparates, bekam zur Frau ein Objektverhältnis. Er, der Mann, fing nun an die Welt mittels des Apparates zu beherrschen, weil er Herrschaft über diesen hatte. Kulturtechnisch wurde der Apparat gleichgesetzt mit der Frau. Beide, Apparat und Frau, sind identisch in ihrer Naturhaftigkeit und Vollzugshaftigkeit. Der Mythos von Orpheus und Eurydike verkörpert diese Beziehungskonstellation von Mann, Frau bzw. Apparat und Welt.

 20 Diese Beziehungskonstellation ist schon in dem Bild von Eva als ausgelagerter Rippe Adams angelegt. Auf diese Weise beherrscht bzw über-lebt der Mann über das Weib die Welt, und wird umgekehrt von ihr in diese verführt. Am Apparat bildet sich die Verführung als die naturhafte Verlängerung von Welt in Richtung des Subjekts.

One plus one= anderthalb

 21 Im Verhältnis von Mann und Frau ergibt deshalb 1+1= 1.1/2 und nicht 2. Zu dieser Gleichung kommt Klaus Theweleit in seinem Buch Orpheus und Euryridike.

 22 "...daß ein Mann und eine Frau, die zusammen etwas machen, anderthalb ergeben. Wieviel ergeben sie wenn ein Kind dazukommt? Drei? Oder etwas ganz anderes? Einen >Organismus<, wie Franz Kafka das verzweifelt nannte. Ich kenne ein Gedicht dazu

Wenn meine Frau schläft

wenn das Kleine und Kathrin

wenn sie schlafen

und die Sonnenscheibe flammend

weiß in seidenen Nebeln

über schimmernden Bäumen steht,-

wenn ich dann in meinem Zimmer

nördlich nackt, grotesk

vor meinem Spiegel tanze,

schwenk mein Hemd mir um den Kopf

und mir leise selbst zusinge:

>Ich bin einsam, einsam

und zum Einsamsein geboren,

einsam bin ich auf der Höhe!<

Wenn ich Arme und Gesicht,

Schultern, Flanken, Hintern an mir selbst

bewundre vor den gelben Jalousien

Wer leugnet dann, daß ich glücklich

und mein guter Hausgeist bin.---The happy genius of my household

 

 23 Die Frau muß schlafen (erstarrt sein) damit Mann produzieren kann.

 24 So wie das Produkt gleichsam den Apparat auslöscht, womit es geschaffen wurde, löscht Mann die Frau aus wenn er genial Welt schafft.

 25 Mann überlebt in seinem Hervorbringen das Medium, woraus bzw. womit er seine Werke hervorbrachte.

 26 Das Medium wird im Hervorbringen, in der Produktivität, überflüssig und redundant.

 27 Sie, Frau, wird zur furor erotici, Wahn-sinnlich,

 28 Objekt des Berauschens oder ganz profan, zur Furie, zur Hexe.

 29 Er wird behext.

 

Das Moment der Verführung durch den Apparat gelangt erst Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, zu seiner vollkommenen Bedeutung, als der Mann die Kontrolle über die Maschine verlor und diese anfing, Besitz von ihm zu ergreifen.

 30 Während der Jahrundertwende wechselte sich der Blickpunkt. Die vom Mann eroberte und beherrschte Welt schaut über den Apparat nun ihn an.

 31 Hieran bildet sich bei ihm eine homosexuelle Konstitution bei gleichzeitigem Versuch, die Frau zu entsexualisieren. Bei ihm entsteht eine Körperpanzerung, eine grundlegende Abwehr gegen alles sexuelle und lebendige. Sie, die Frau, wird zur blonden Krankenschwester. Beide werden zu Ariern. Diese Entsexualisierung korrespondiert mit dem Versuch den Apparat zu entschärfen und zu effizieren.

 32 Der Krieg wird zum Austragungsort der männlichen, aufgrund der Panzerung entstandenen, Entgrenzungs- und Beherrschungsgelüste.

 33 Klaus Theweleit schrieb darüber ausführlich in seinem Buch "Männerfantasien". Diesen Themenkomplex werden wir im Januar, wenn wir Marshal McLuhan, Klaus Theweleit und vielleicht Kittler lesen, sehr ausgiebig und gründlicher, als ich es hier und jetzt kann, behandeln.

 34

Wir verfolgten bis hierhier, was aus Adam und Eva wurde, als sie durch den Sieg des Nominalismus von der Namensprägung durch Gott befreit wurden. Nun möchte ich nochmals den Blick zurückwerfen und mir anschauen, was aus dem Zeichen wurde, das nach diesem Streit nun ohne zugehörigem Gegenstand im Kosmos herumschwebt.

 35 Die Trennung der göttlichen Einheit von Geist und Materie, Name und Ding, Zeichen und Bezeichnetes eröffnete plötzlich für den Menschen eine unendliche Kombinationsmöglichkeit, beide aufeinander zu beziehen. Der Name war nicht mehr in dem Ding eingebrannt, sondern erhielt eine Wahrscheinlichkeitsbeziehung zu ihm. Flusser beschreibt dies mit einem einfachen Bild: Man schrieb nicht mehr in Materie sondern auf Materie.

 36 Inschriften sind "Monumente" (monere=bedenken). Aufschriften sind Dokumente (docere=unterrichten). Die magische Einheit von Wort und Ding wird zu einer bennenenden Einheit. Die gegebene Unmittelbarkeit zu einer gesetzten Mittelbarkeit. Die Schrift muß sich ihr Verhältnis erst herstellen und ist nicht mehr magisch als Einheit von Schriftbild und Bildbild gegeben.

 37 So wie der nominalistische Mensch nicht mehr in die Welt gesetzt und sein Horizont bestimmt ist und er deshalb über seine Sinne, über die Dialektik von Fluchtpunkt und Blickpunkt sich selbst in ein Verhältnis zu Welt setzen kann, so ist der Name nicht mehr gottgesetzt und mit dem Ding verbunden. Der Mensch kann nun mit Hilfe der frei gewordenen Zeichen sich selbst und Welt bezeichnen und dokumentieren.

 38 Er überführte sich mit Hilfe der Zeichen in eine Raum-Zeitlichkeit. Aus dem magischen Identifizieren wird Erzählen. Ein zeilenförmiges Aneinanderreihen von Zeichen, das zeitlichen Vollzug erstellt. Das Lesen wurde zum Fortfahren bzw. Fortschreiten. Hier entstand das Bewußtsein von Fortschritt. Das Wort verbindet sich nicht mehr mit dem Ding sondern, mit anderen Wörter und erstellt Text. Der Text ist gegliedert in Worte und Sätze, die kausal aufeinander bezogen sind. Hier erfährt der Mensch über das Schreiben Geschichtsbewußtsein. Bildliche Identifikation mit Welt wird durch den Text zerstört und überführt in eine kausale logische lineare Analogie, in der aus der Reihung von Buchstaben sich sinnvolle Wörter ergeben, aus der Reihung von Wörter sinnvolle Sätze und aus der Reihung von Sätzen ein sinnvoller Text. Vierdimensionale Welt wird auf diese Weise höchst kompliziert in eine abstrakte alphanumerische eindimensionale Reihe übersetzt. Material und Geist vermitteln sich auf diese Weise höchst abstrakt. Nun gibt es eine Welt der Dinge und eine Welt der Buchstaben und beide haben höchst unterschiedliche Gesetzmäßigkeiten.

 39 Der Text verselbständigte sich im Laufe der Geschichte immer mehr.

 40 Dadurch wurde es möglich, daß man einzelne Textteile isolieren und anders kombinieren konnte, soweit, daß selbst die Sinneinheit Wort in einzelne aneinandergereihte Buchstaben zerfiel und diese sich auch isolieren ließen.

 41 Dies war die geistige Voraussetzung für den Buchdruck, für die Typografie. Die Fähigkeit, den einzelnen Buchstaben aus einem Sinnzusammenhang zu isolieren und ihn als variablen Textbaustein zu betrachten, ist das extremste Resultat des Nominalismus`. Auf dieser Stufe der Entwicklung passiert etwas Eigenartiges. Die isolierten Buchstaben, in horizontaler und vertikaler Weise alphabetisch im Setzkasten des Druckers aneinandergereiht, dort darauf wartend´, sinnvoll gesetzt zu werden, wurden zum Bild. Dieses Bild ist aber ein anderes, als es vor dem Universalienstreit war. Dort war es sinnlich analog zur Welt, nun ist es unsinnlich analog zur Welt.

 42 Der amputierte autonome Apparat hat diesselbe Stellung zum Menschen, wie das sich durch Verselbständigung des Zeichens gewonnene autonome Bild zur Welt. Auf diese Weise erscheint die Welt als unendlich viele Möglichkeiten, Text zu werden. Bild und Welt hängen nun als unsinnliche Ähnlichkeit, als strukturell kongruent miteinander zusammen und sind so auf einander beziehbar. Hier schlägt der Nominalismus in seiner extremsten Ausformung in sein Gegenteil um. Zeichen und Bezeichnetes werden wieder identisch. Aber nicht auf der materiellen Ebene, nicht im Bezeichneten, sondern im Zeichen. Nun beginnt eine Entwicklung an, dessen Ende wieder der mittelalterliche Satz stehen wird: "Universalia sunt realia", Ideen sind Realität. Doch sind die Ideen wie im Mittelalter nicht mehr in der Realität zu finden, sondern die Realität hat sich transformiert in unendlich viele Möglichkeiten ihrer selbst, wovon eine sich nur jeweils realisiert. Die sinnlich wahrnehmbare Realität ist nur ein zufällig realisierter Fall unendlich vieler Möglichkeiten. Der Mensch bekommt ein hyphotetisches Verhältnis zur Welt. Das neu enstandene Werkzeug, der Apparat, realisiert eine der vielen Möglichkeiten, die im Bild der Welt, in der Struktur der Zeichen möglich sind. Auf diese Weise ergänzen sich die entstande Zeichenstruktur mit der entstanden Apparatstruktur und bilden zusammen realisierte Welten in der Welt.

 

43 Nun erst ist die geistesgeschichtliche Situation geschaffen für die Erfindung der Fotografie, einem Bild in der Welt, daß durch ein Apparatprogramm in eine quantische Struktur von atomistischen Punkten in vertikaler und horizontaler Anordnung übersetzt wurde. Das Bild ist ein Text der nur aus einem Buchstaben besteht, dem schwarzen Punkt. Die Information, die das Bild trägt ist ein Code bestehend aus den Elementen Punkt oder Nicht-Punkt. Hier schon haben wir das Modell, aus dem sich später digitalisierte Bilder herstellen lassen. Dort generieren sich aus einem Text, der nur aus den Buchstaben 1 und 0 besteht, Bilder.

 

 44  Der Verlust der magischen Identität von Zeichen und Bezeichnetem, und damit der Verlust des Paradieses, als ein Zustand, in dem der Mensch blind in der Welt mitschwamm, wird im digitalisierten Bild, in der quantifizierbaren Übersetztheit von Welt wieder aufgehoben. Diese Aufhebung erfolgt aber durch eine Fiktionalisierung und Ästhetisierung also durch eine Überführung der Materie in Geist. Der Mensch wechselt auf diese Weise von einem vorgeschichtlichen, paradiesischen Stadium in ein geschichtliches, um dann mit der Erfindung der Fotografie sich in ein nachgeschichtliches zu transformieren. Der Abschluß dieses nachgeschichtlichen Stadiums bildet die Erfindung des Computers und die Möglichkeit von Cyber- Space und Virtual Reality.

 

 45 Kein anderer Apparat hat unsere Welt derart grundlegend verändert wie der Fotoapparat. Obwohl er nur ein Apparatprodukt war neben vielen anderen, welche die Umwälzung hinsichtlich der Vorstellung von Welt im Laufe der Geschichte hervorgebracht hat, so ist er doch derjenige Apparat, der die Umwälzung im Bild und damit die veränderte Vorstellungsbedeutung sinnlich manifestiert hat. Er hat die radikale Konsequenz der Erfindung der Typografie erst augenscheinlich gemacht, sowie diese erst die Bedeutung des Nominalismusstreites uns erst wirklich begreifbar machte.

 46 Folgt man meiner oben entworfenen kurzen Skizze der Entwicklung vom magischen Bild über den Text zum analogen Bild, so ist der Computer nichts anderes als die Vollendung der Fotografie. Diese Behauptung hieße in seiner Konsequenz, von der Vorstellung Abschied zu nehmen, daß die Fotografie dokumentarischen Charakter besitze, also Welt aufzeichne. Hierin, so denke ich, unterscheide ich mich grundlegend von der vorherrschenden Meinung dieses Hauses, soweit sie Fotografie als Medium behandelt.

47 Folgt man wie ich nicht dieser Einschränkung des fotografischen Bildes auf das Dokument, sondern zieht auch seine projektive, seine wirklichkeitsschaffende und -erstellende Leistung in Betracht, so läßt sich ohne weiteres behaupten, daß die Welt nicht nur vollständig in ihrer apparativen Prospektivität (der Apparat nimmt in der Wirklichkeit nur wahr, was vom Apparatprogramm aufgenommen werden kann) rezipiert, sondern auch projektiert wird.

48 Wir haben gesehen, daß die Fotografie erst möglich wurde, als das Zeichen völlig referenzlos und damit zum Baustein für das Bild wurde. Am fotografischen Bild vollzieht sich auf einer höheren Stufe der Abstraktion nun nochmals dasselbe, was sich während des Universalienstreites zwischen dem Zeichen und Bezeichneten vollzog. Die fotografische Beziehung des Bildes zur Wirklichkeit ist eine doppelt übersetzte. Am fotografischen Bild ist nicht nur das Bezeichnete in atomistische Zeichen übersetzt, sondern diese Zeichen wurden nochmals in eine strukturelle Beziehung übersetzt. Der reale vierdimensionale Raum und die reale Zeit werden nicht nur in eine Linearität des Textes und in der fiktiv beschriebenen Zeit übersetzt, sondern der Text selbst übersetzt sich zu einem Bild. Auf diese Weise führt das fotografische Bild den Text wieder in eine direktere Beziehung zur Wirklichkeit zurück.

49 Diese vorgestellte Wirklichkeit ist aber nur Illusion. Diese Illusion ist aber so täuschend echt, daß sie für Wirklichkeit gehalten wird und im Laufe der folgenden Jahrzehnte wird jede mögliche Nichübereinstimmung apparativ korrigiert und gleichzeitig die Wirklichkeit selbst auf das fotografische Bild hin angelegt. Dies meinte ich als ich oben von einer apparativen Prospektivität von der Wirklichkeit sprach. Diese Zurichtung der Wirklichkeit und des Menschen auf die Leistungen des Apparates hin habe ich im Zusammenhang des apparativen Geschlechtsverhaltens schon einmal angesprochen. Bedeutungstheoretisch ist es die vollkommene Überführung des Bezeichneten ins Zeichen.

50 Aktualisierte sich die Wirklichkeit durch das Schreiben, blieb aber gleichberechtigt antagonistisch als Fluchtpunkt bzw. Referenzpunkt bestehen, so aktualisiert sich das Schreiben nun im fotografischen Bild bei gleichzeitiger Ausblendung bwz. Ersetzung der Wirklichkeit. Das Syntagmatische des Fließens vom Text, also die allmähliche Verwandlung des Sinns im Fluß der Geschichte, wird nun zum paradigmatischen des Bildes: Ein Bild ersetzt das vorhergehende Bild. Fortschritt wird zur sukzessiven Ablösung des gemachten Vorstellungsbildes von Welt. Auf diese Weise wird die Diachronie zu einer Abfolge von sich paradigmatisch ersetzenden Bildern. Hier etabliert sich der Begriff der Mode als das aktuelleste Bild von Wirklichkeit. Unser Bewußtsein wird durch und durch wissenschaftlich. Die zugrunde gelegte Vernunft ist nur noch instrumentell. Der Text in seiner Verbildlichung, verhält sich ebenso wie die Bilder zueinander. Die Texte hierachisieren sich von primär zu sekundär zu tertiär und quadrär Texten und haben die Tendenz zu einem allzusammenfassenden Begriff zu werden. Diese Hierachisierung des Textes ist die Geburtsstunde für Hypertextualität.

 51 Das ursprünglich an der Camera Obscura entstandene Interieur ist nur noch vorübergehender Zustand, bis sich ein neues Interieur bildet und das vorhergehende exterieurisiert.

 52 Alle Daseins- und Wirklichkeitspole sind nur noch flüchtige Gebilde und tauschen sich im zeitlichen Vollzug als permanente Wiederkehr aus.

 53 Traum und Wachsein, Innen und Außen, Konstruktion und Fassade, Weiblich und Männlich, Individuum und Masse, Täter und Opfer, Fortschritt und Verfall, Planung und Reklame, Schein und Sein, Kontemplation und Zerstreuung, Gewöhnung und Analyse, Individuum und Masse.

 54 Diese Transitivität der Zustände werden wir am Schluß dieses Semesters bei Benjamin erarbeiten.

Diese These und ihrer erkenntnistheoretischen, politischen und sozialen Folgen grundlegender zu belegen, als ich es oben versuchte, ist Inhalt und Aufgabe dieses Seminars.

 55 Kulturgeschichtlich gesprochen hat die Menschheit in ihrem scheinbaren Fortschritt, den sie unternahm, nur ein Ziel gehabt, zurück zum Paradies zu gelangen. Zu einem Zustand von unmittelbarer Beziehung zu der Natur.

 56 In all diesem Streben entfernte sich der Mensch immer weiter von dem Ziel und schaffte es dann durch einen semiotischen Zaubertrick, eine Natur zweiten Grades zu etablieren, mit der er wieder eine Einheit bildet.

 57 Diese Natur zweiten Grades ist nicht mehr bepflanzt mit realen Dingen sondern, mit verschiedenen Techniken, Lebensanschauungen, Ideologien und Tätigkeiten. Diesen ist allen etwas technisches gemeinsam.

 58 Ansonsten bilden sie isolierte Bereiche der Wirklichkeit, die keinen Bezug mehr untereinander haben. Es ist ein nachapparativer Zustand, d.h. wir leben heute nicht als Analytiker hinter dem Apparat, sondern als Zugerichteter vor dem Apparat. Hier ist alles gleichgültig und gleichgültig. (Vielleicht haben wir irgendwann in diesem Seminar noch Zeit, um uns darüber zu unterhalten, warum es im Zeitalter der Computer keine ästhetische Qualität mehr gibt.)

 59 Dieser nachgeschichtliche Zustand, in dem wir heute leben, wurde erkauft mit der vielleicht größten Tragödie der Geschichte, der Judenvernichtung.

 60 Sie bildet den Schlußstein einer Entwicklung, die mit der Vertreibung aus dem Paradies anfing und ist vielleicht der Vorschein jenes Danteschen Inferno, welches uns in der Weiterverfolgung des eingeschlagenen Menschheitsweges bevorsteht.

 61 P A U S E

   WORKING FOR PARADISE

 62 "If everything is perfect, language is useless. This is true for animals. If animals don´t speak, it´s because everything´s is perfect for them. If one day they start to speak, it will be because the world has lost a certain sort of perfection." Jean Baudriallard "COOL MEMORIES"

 

Im folgenden möchte ich ein Konzept vorstellen, daß den gesellschaftlichen politischen und kulturgeschichtlichen Hintergrund der Erfindung der Fotografie zum Thema hat. Die Idee war, den oben beschriebenen Prozeß der Renaturalisierung des Bildes am Ort des Geschehens im "MUSEUM OF NATURAL HISTORY" nochmals vorzuführen und zu reflektieren. Die Bedeutung des Museums als Ort der Natur zweiten Grades wurde in diesem Konzept vernachlässigt und stünde, würde ich es heute schreiben, im Vordergrund meiner konzeptuellen Überlegungen. Im Zusammenhang mit dem Passagenwerk von Walter Benjamin werden wir des Museum zentrale Rolle für die Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, als dreidimensonale Fotografie, erarbeiten und reflektieren.

PARADISE

 

GEISTESGESCHICHTLICHER HINTERGRUND

 

Natur versus Kultur

 1        "PARADISE" ist eine Fotografieinstallation im "Museum of Natural History", basierend auf der Tatsache, daß der Beginn der Geschichtsforschung als selbständige Disziplin fast zeitgleich mit der Erfindung der Fotografie zusammenfällt.

            Während der letzten 500 Jahren bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts vollzog das Bürgertum einen sukzessiven Paradigmawechsel in seinen religiösen, intellektuellen und sozialen Wertvorstellungen. Der Grund für diesen Wechsel war die zunehmende Säkularisierung immer größerer Gesellschaftsschichten, welche das Bewußtsein beförderte, daß die Welt nicht nur räumlich sondern auch zeitlich endlich sei. Mit dem Verschwinden des Glaubens an ein jenseitiges Leben entwickelte sich die Einsicht, daß die menschliche Existenz an Geburt und Tod gebunden ist.

            Der Mensch verstand sich nicht mehr als Teil eines nicht verstehbaren Kosmos, sondern begann zu begreifen, daß er nichts als seine Erfahrung hier auf Erden hat. Auch seine Vorstellung von Zeit und Raum waren an seine Erfahrungen auf der Erde gebunden. Geschichte wurde nicht mehr als ein gegebenes Schicksal verstanden, sondern als ständig zu überprüfender und zu verbessernder Prozeß, um das beste allen möglichen Da-seins auf Erden zu realisieren. Alle bisher von Menschen gemachte Erfahrung wurde wichtig, um über möglichst viele Daten zu verfügen, die dann die Entscheidungsgrundlage bilden sollten, um Maßnahmen für die Zukunft treffen zu können. Dies war der Hintergrund für die Entstehung von der Geschichtswissenschaft, der Kunstgeschichte, der Archäologie, der Geologie, der Geographie und der Literaturwissenschaft. Das Ziel dieser Wissenschaften war, das Wissen über die Welt zu vergrößern und zu fixieren, um es verfügbar zu machen und für spätere Generationen zu bewahren.

            Während der Herrschaft König Ludwig I. von Bayern wurde zum erstenmal in der Geschichte beschlossen, ein Haus zu bauen, das nur die Aufgabe hat, Zeugnisse einer Kultur zu sammeln, zu beherbergen und auszustellen. Zwischen 1816 und 1830 wurde das erste autonome Museum, die Glyptothek in München, gebaut. Dieses Museum sammelte Gegenstände aus der Zeit der griechischen Klassik. Andere Museumsbauten mit verschiedensten Aufgaben folgten. Die meisten der größten und wichtigsten Museen in der ganzen Welt wurden während des 19. Jahrhunderts gegründet. Diese Museen waren in ihrer Aufgabe und Zielsetzung eng an die jeweilige nationale Identität geknüpft. Der Grund dafür, daß die Glyptothek die Kulturepoche der griechischen Klassik ausstellte, lag darin, der sich gerade bildende deutsche Nationalstaat rechtfertigte über seine Nachfolge der griechischen Klassik. Die Identität Amerikas lag in der Weite und Unerschöpflichkeit der dortigen Natur, die paradiesisch mystifiziert wurde. Das "American Museum of Natural History", eines der bis heute wichtigsten Museen Amerikas, wurde 1869 gegründet.

            Das "Natural History Museum" sandte Männer in die Natur, um Tiere zu jagen, welche zum Ausstellen gebraucht wurden. Währenddessen hielten Museumsangestellte die den Tieren natürliche Umgebung fest, sammelten die jeweils charakteristische Flora und Fauna, machten Abgüsse von den Gesteinen, nahmen Erdproben, und präparierten die erlegten Tiere, um sie im Museum in gewünschter Stellung und Haltung montieren zu können. Im Museum waren die Präperatoren nun in der Lage, die Tiere und deren Umgebung detailgerecht zu reproduzieren und in dreidimensionalen Schaukästen lebensgroß auszustellen.

            Das Ziel war, charakteristische Aspekte der amerikanischen Natur zu sammeln, indem man die Natur selektiert, übertragen, katalogisiert, reinszeniert und fixiert. Beim Fixieren wurden der Natur die ihr innewohnende natürliche Zeit und Raum entzogen. Auf diese Weise wollte das Museum seltene oder vom Aussterben bedrohte Tiere, Bäume und andere Zeugnisse der Natur bewahren und vor ihrem natürlichen Zerfall retten.

            1839, neun Jahre nach der Eröffnung des ersten Museums, verkündete die französische Regierung die Erfindung der Fotografie. Die Fotografie repräsentierte als eine von vielen technischen Erfindungen in dieser Zeit jenes oben beschriebene veränderte Bewußtsein. Der Mensch verstand sich nun nicht meht als ein Teil der Natur, sondern als deren Verwalter; einer, der die Natur für die Zukunft, für die Ewigkeit aufbewahrt und somit rettet. Die Fotografie war dabei nicht nur ein geeignetes Hilfsmittel, sondern entsprach als Bildform, als Repräsentationsform von Welt jenem gewandelten Bewußtsein.

            Hinter der Idee, Natur zu bewahren, stand der Wunsch, das Leben über seine natürlichen Grenzen hinaus zu verlängern. Der Mensch wollte nicht mehr das Opfer von Natur sein: er wollte Kontrolle über die Natur, über den Tod und die Geburt, über den Verfallsprozeß bekommen.

            Dieser Wunsch, als eine technisch zu vollziehende Möglichkeit, war der Ersatz für das verlorene jenseitige Leben, welches einstmals durch den Glauben an Gott verbürgt war. Natur wurde zum Fetisch. Neben der alten Auffassung, in der der Mensch Teil der Natur ist, in der er ihr ausgeliefert ist, in der er den Tod als unausweichliche von Gott gegebene Grenze allen Seins hinnimmt, entwickelte sich im Laufe der Jahrhunderte eine neue Sichtweise von In-der-Welt sein: als ein Objekt, als ein fixiertes Ding, frei von natürlicher Zeit (Verfallszeit) und natürlichem Raum.

 2 Seit Descartes schrieb: "Ich denke, deshalb bin ich" unterschied man im philosophischen Diskurs den denkenden Teil im Menschen von dem zu denkenden Teil, das Subjekt, das denkt, von dem Objekt, das zu denken ist, oder lax gesprochen, den natürlichen Teil von dem (begrifflich) fixierten Teil. Nun war der Mensch imstande, sich selbst wie ein Voyeur zu betrachten, indem er seinen Geist, seine Fähigkeit zur Idee, von seinem Körper trennte. Dies war die Voraussetzung für ein neues Verständnis von Natur, indem man auf diese die selbe Unterscheidung von subjektiv und objektiv projizierte. Natur war nun wie der Mensch gleichzeitig ein Subjekt und ein Objekt, ein Ding an sich und seine Erscheinung.

            Kant beschrieb diese Fähigkeit, ein ästhetisches Vergnügen zu erlangen, indem man auf die Welt schaut, ohne sich in ihr zu fühlen, in seinem Buch "Kritik der Urteilskraft". Er schrieb, daß die Fähigkeit, sich von seinem Körper und allen physischen Dingen zu trennen, die Voraussetzung für Erhabenheit ist.

            Der Natur die ihr innwohnende natürliche Zeit und den Raum zu entziehen, indem man sie partikuliert und fixiert, bedeutet ihre Reduktion auf ein Objekt. Rekreiert man das Objekt nun wieder, wie in einem Museum, in einer fiktionalen Zeit und einem fiktionalen Raum, so transformiert man das Objekt in ein fiktionales Subjekt. Diesen Prozeß der Reintegrierung eines Objektes in eine fiktionale Zeit und einen fiktionalen Ort ist die Leistung, die wir gemeinhin als Kultur betrachten.

KÜNSTLERISCHE IDEE

            Meine Installation refelektiert das Paradoxon, daß Natur bewahren immer heißt, daß sie verloren geht. Dieses Paradoxon weist das Museum of Natural History selbst schon unbewußt auf. Diese kulturgeschichtliche Unbewußheit dort herauszuarbeiten, ist das Ziel meiner Installation.

            Im Museum wurde Natur in dreidimensonalen Dioramen, welche 5 m lang, 3m hoch und 7m tief sind, reinszeniert.

 3 Diese reinszenierte Natur ist quasi eine fotografische Kopie der eigentlichen Natur. Diese Abstraktion der Natur wird in meiner Installation durch eine fotografische Aufnahme des Dioramas, durch eine Kopie der Kopie von Natur, weitergetrieben. Die so gewonnene Fotografie von dem Schaukasten ist abstrakter und hat weniger Referenz zur Natur als der Schaukasten selbst. Der dreidimensionale Schaukasten ist trotz seiner Illusionshaftigkeit noch Raum. Die Fotografie hat weder realen Raum noch reale Zeit. Auf diesselbe Weise wie die Zeit im Diorama als gefroren erscheint, erscheint durch die Fotografie in meiner Installation Zeit und Raum als erstarrt. Beide, Zeit und Raum, sollen durch einen leeren Behälter zur Darstellung gebracht werden. Auf diese Weise bekommen die Fotografien an der Außenseite der Behälter den Charakter einer Verpackung, die auf den Inhalt des Behälters verweist. Augrund der Abstraktheit und Referenzlosigkeit hinsichtlich der Zeit und des Raums repräsentiert die Fotografie nichts anderes als den Vorschein einer kommenden Leere bzw. Abwesenheit.

 4 Formal gleicht der installierte Behälter einem gotischen Reliquienschrein, der an der Außenseite die übliche Bebilderung der inneliegenden Reliquien aufweist. Bei meinem Behälter fehlen die Reliquien, er repräsentiert keine materiellen Geschichtsspuren. Schaut man von den Stirnseiten in den Behälter so sieht man nur die sich gegenseitig spiegelnden Innenwände, die wie in einem Kaleidoskop keinen Raum mehr entfalten.

            Der an die Geschichte des Abendlandes gekoppelte Entfremdungsprozeß von Natur wird in meiner Installation als Modell eines sukzessiven Abstraktions-prozeßes vorgeführt: von dem Bild von der Natur zu dem Bild des Bildes von der Natur, endend in der puren referenzlosen Abstraktion.

AUSFÜHRUNG

Das Werk "Paradise", in der Eingangshalle des "Museums of Natural History" installiert, zeigt am Beispiel dieses Raumes meinen Umgang mit diesem Museum.

 5        Die Eingangshalle hat eine kreuzförmigen Grundriß. Dieser Grundriß ist in beiden Richtungen ( Nord - Süd, West - Ost ) achsensymmetrisch. Diese immanente Spiegelung ist für das Werk ebenso wichtig wie die Spiegelung des Raumes in den Fensterscheiben der vier Dioramen. Die vier Dioramen, zwei an der Nordseite und zwei an der Südseite, sind jeweils an derselben Stelle in die Wand eingelassen und liegen einander exakt gegenüber. Zwischen den zwei sich gegenüberliegenden Dioramen wird ein Objekt gestellt, welches einem gotischen Reliquienschrein gleicht.

 6        Das Objekt besteht aus einem langgezogenen viereckigen Grundgestell aus Holz, worauf an den beiden Längsseiten jeweils eine Aluminiumplatte gestellt wird. Die Aluminiumplatten lehnen an ihrer Oberkante aneinander und bilden ein spitzwinkeliges Dach.

 7 Die Platten haben dieselbe Größe und denselben Winkel wie die Fensterscheiben der Dioramen. Auf diese Weise ist das Objekt ein Resultat aus einer Parallelverschiebung der beiden sich gegenüberliegen Glascheiben der Dioramen zur Mitte des Raumes hin.

 8 Jede Platte ist mit dem zweidimensionalen Bild desjenigen Schaukastens siebbedrukt, dem sie gegenüberstehen. Die Bilder wurden mit einer Still- Videokamera gemacht und weisen deshalb die dem Computer eigentümliche Pixelstruktur auf, welche das Raster bildet, mit der sie auf das Aluminium gedruckt werden.

 9        Das spitzwinkelige Dreieck an den Frontseiten des Objekts wird mit einer Plexiglasscheibe geschlossen. Diese Scheiben werden mit der Aufschrift "PARADISE,

MICHAEL HOFSTETTER, 1991 bedruckt.

Nachdem ich drei Monate zubrachte, dieses Konzept mit Hilfe des Computers in einem Buch darzustellen, ging ich daran die Realisation zu versuchen. Ich schrieb vielen Kuratoren, von denen ich glaubte, sie hätten Interesse mir zu helfen. Auch hatte ich zwischendurch schon eine Zusage. Hier nun einer der vielen Briefe, die ich schrieb und in dem ich einige Aspekte der Konzeption vertiefte.

Peter Galassi

Director. Photography Department

Museum of Modern Art

11 West 53 street

New York, N.Y. 10018

Sehr geehrter Herr Galassi,

anläßlich Ihrer Einführung zu der von Ihnen konzeptierten und realisierten Ausstellung " The Pleasures and Terrors of Domestic Comfort" hatte ich als Student von Marvin Heiferman und Carole Kismaric die Gelegenheit, sehr intensiv mit Ihnen zu diskutieren.

Während unseres Gespräches bekam ich den Eindruck, daß Sie an künstlerischen Fotografieinstallationen die aus dem gewöhnlichen Rahmen Fotografie zu präsentieren herausfallen interessiert sind. Ich entwickelte ein Konzept für eine Fotografieinstallation im Museum of Natural History. Die entworfene Installation untersucht das Phänomen Fotografie nicht als einen chemisch-technischen Prozeß der Bildherstellung, sondern als geistigen Prozeß. Sie vermittelt die Fotografie zurück zu ihrem Ursprung als ein Medium, welches aus dem Willen heraus enstand, die Wirklichkeit aufzuzeichnen und zu retten. Derselbe Wille bewegte den Menschen, als er versuchte, Natur im Museum in einen Schrein einzuschließen und dort als Diorama auszustellen.

 10 Diese Dioramen funktionieren deshalb als eine Art dreidimensonale Fotografie. Die Dioramen repräsentieren den vergeblichen Versuch des Menschen die Wirklichkeit zu sichern und auszustellen, und damit hinter die Grenze des Todes zu gehen. Hinter dem Diorama steht der Wunsch, eine orts- und zeitgebunden Sache beweglich zu machen und sie für andere Räume und Bedeutungen frei zu setzten. Die Fotografie wie auch das Diorama repräsentierten immer implizit verlagerte (dislocated) Realität, explizieren diese Verlagerung(Dislocation) aber nicht.

 11 Die Fotografie und das Diorama haben als gemeinsame Merkmale selektive Weltauswahl, die Beweglichkeit jedes Dings, Fiktionalisierung von Welt, damit diese überhaupt gesichert und für das künstliche Gedächtnis gespeichert werden kann. In diesen Merkmalen repräsentiert sich dasselbe kulturelle Phänomen, welches ich die fotografische Idee nenne.

Meine Installation verbindet die Fotografie mit dem konzeptuellen Punkt ihres Ursprungs: dem Diorama. Diese Zurückverlagerung (Relocation) von der Fotografie an ihren ursprünglichen Punkt verwendet die künstlerische Strategie der Möglichkeit zur Verlagerung als eine, die immer theoretisch mit der Fotografie verbunden war. Diese künstlerische Strategie scheint für mich die adäquate Präsentationsform von Fotografie für die neunziger Jahre zu sein.

 12 Würden Sie mich bei der Realisation dieses Konzepts von "Paradise" unterstützen, als einem Ereignis der Fotografieabteilung des MoMA, und damit eine Verlagerung (Dislocation) zwischen dem aktuellen genius loci der Fotografie, nämlich der Fotografieabteilung des MoMA, und dem konzeptuellen genius loci der Fotografie, dem Museum of Natural History, ermöglichen.

 13 Heute, am Höhepunkt von Muti-media Kunst und virtual realty Technologie ist es meines Erachtens notwendig, die historische Wende im Denken während des 19.Jahrhunderts nochmals zu untersuchen. Denn diese Wende machte die aktuelle Bildtechnologie erst möglich. Ich glaube, daß diese Installation zeigen wird wie mit Hilfe eines alten Mediums Lösungen für die Probleme dieser neuen Technologie erarbeitet werden können.

 14 Ich würde mich freuen, mit Ihnen über dieses Konzept diskutieren zu dürfen. Wenn Sie weitere Fragen haben, rufen Sie mich bitte unter der Nummer 212 / 239 8072 an. Vielen Dank.

Mit freundlichen Grüßen

Michael Hofstetter

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