L'artiste devant sa toile, Kunstverein Marburg, 2019


33 Studierende der Akademie der Bildenden Künste München im Kunstverein Marburg
kuratiert von Marc Aurel, Michael Hofstetter, Pola Sieverding

 

L’artiste devant sa toile

Oder wie einen Titel für eine Ausstellung finden, die keinen Überbegriff hat

Eine Ausstellung aus lauter guten Werken. Kein Konzept. Kein Metatext. Nur gute Einzelarbeiten, die sich zu einem ästhetischen Ganzen orchestrieren. Wie soll das gehen im Zeitalter der Zeichenflut? Wo alles schon längst alles bedeutet? Solche Fantasien können im Jahr 2018 nur Künstler*innen haben. Und nur solche, die eine Vorstellung von einem Werk haben, das sich auch noch von etwas anderem nährt, als nur von Zeichen.

Pola Sieverding, Marc Aurel und Michael Hofstetter haben eine solche Ausstellung zusammengestellt. Sie trafen sich an einem sommerlichen Sonntag 2018, anlässlich der Jahresausstellung der Münchner Akademie, um auf Einladung des Kunstvereins Marburg Werke von Studierenden für eine Ausstellung auszusuchen. Es ist ihr erstes Treffen. Sie haben weder vorher zusammen gesoffen noch sich über Kunst unterhalten. Keiner der drei weiß, was der andere für Vorlieben hat. Ihr Rundgang beginnt im Gartenhaus des Akademiegartens. Erstes Tasten bei den hier gezeigten von der Wand herabhängenden sprechenden Puppen einer jungen Künstlerin. Erstmal schauen. Schweigen. Was sagen? Zieht man jetzt gleich die Keule der Kunstgeschichte heraus oder lässt man sich ein auf das Werk, die Situation, den Raum? Registrieren, wie die anderen beiden reagieren. Offene Verhaltenheit. Wie beim ersten Rendezvous. Vorsichtige erste Äußerungen des Gefallens. Leichte Abers dagegen. Einstimmen auf ein Votum wie beim Finden des gemeinsamen Tons. Der Rundgang nimmt Fahrt auf. Bei jedem weiteren Werk ist die Abstimmung schon sicherer.

Nur ein guter Beobachter könnte sagen, was die drei Künstlerkurator*innen trägt. Es gibt einen roten Faden in ihrer Auswahl. Ökonomie und Klarheit in der Entwicklung des Werkes, Wille zur Gestalt und zur Form, hohe Materialsprachlichkeit, Verankerung in der Zeitgenossenschaft. Eine ausgewogene Balance zwischen Konzeptualität und Materialität, das Fluidum der Akademie München. Eine Balance, die sich schon in Schellings Gründungsschrift findet.
Die mimetische und habituelle Vorgehensweise wird mit den Mitstudierenden und den Lehrer*innen in gemeinsamen Gesprächen reflektiert. Materialität, Stofflichkeit, Gestalt und Form wird hinterfragt durch Wahl und Verfahren. Konzeptuelle Strategien rahmen den sinnlichen Zugang und Zugriff ein.

Zwischen Versuchslabor und Kunstmarkt bewegt sich die Jahresausstellung, die Pola Sieverding, Marc Aurel und Michael Hofstetter gerade durchwandern. Inzwischen hat ihr Aussuchen an Leichtigkeit gewonnen. Verwundert stellen sie fest, wie sehr sie jenseits einer gemeinsamen Programmatik sich über und in der jeweiligen Arbeit verständigen können. Nach sechs Stunden steht ihre Auswahl fest und sie können an der Bratwursttheke im Garten des klassizistischen Neureuther-Baus den Sommerabend genießen.

4 Monate später. Sieverding, Aurel und Hofstetter schauen gemeinsam mit den Künstler*innen die Werkauswahl an. Sie staunen, wie griffig die Auswahl ist. Sie haben immer noch keine theoretische Klammer, keinen Titel. Was tun? Hofstetter fragt, auf welche Künstler*in sich die meisten Lehrenden der Akademie wohl verständigen könnten. Pablo Picasso. Er würfelt. 1938. L’artiste devant sa toile.

Michael Hofstetter November 2018

 

 

Sehr geehrter Frau Dr. Schneider,
sehr geehrter Herr Dr. Pätzold,
liebe Freund*innen, Sympathisant*innen, Unterstützer*innen und Mitarbeiter*innen des Kunstvereins Marburg, namentlich erwähnt stellvertretend für alle guten Geister des Hauses
Gisela Wengler und Jörg Bauer,
sehr geehrte Damen und Herren,

ein herzliches bayerisches „Grüß Gott“ hier im Kunstverein Marburg!
Ich darf mich erst einmal ganz herzlich bei Ihnen, Frau Dr. Schneider und Herr Dr. Pätzold, bedanken für die Einladung, die Akademie München hier auszustellen. Das mache ich gerne, aber noch lieber und vor allem angemessener – weil Vizepräsident der Akademie München –, macht das Herr Professor Dr. Kirschenmann, der heute Abend spontan mit seiner Gattin aus dem nahen Homburg zu uns hier nach Marburg gekommen ist.

Lieber Johannes, herzlich willkommen. Darf ich Dich bitten, ein kurzes Grußwort hier zu sprechen.


Meine Damen und Herren,
vor 40 Jahren, als ich Kunst studierte, hätte es eine solche Ausstellung wie diese hier in einem deutschen Kunstverein nicht gegeben. Sie zeigt, dass die Museen und Kunstvereine, aber auch die Kunstakademien, ja die Kunst im Ganzen, im Umbruch ist.

Ganz abgesehen davon, dass vor 40 Jahren keine Studierendengruppe in einem Kunstverein ausgestellt worden wäre – vielleicht mit Ausnahme von Preisträgerinnen und Preisträgern der Studienstiftung des deutschen Volkes –, ganz abgesehen davon hätte keine Kunstinstitution eine Ausstellungsreihe konzipiert, in der die regionale Herkunft der eingeladenen Künstlergruppe eine maßgebliche Rolle gespielt hätte. Nach der Muthesius Kunsthochschule in Kiel darf jetzt die Kunstakademie München hier im Kunstverein Marburg sich präsentieren. Herr Dr. Pätzold sagte mir, dass der Kunstverein in einem gewissen Rhythmus alle Kunstakademien von Deutschland zeigen wolle und mit diesen auch deren regionale Besonderheiten. So sehen Sie nun hier nach dem Kielholen das bayerische Schuhplatteln.

Das Paradoxe an dieser Verschiebung der ästhetischen Kriterien zu soziologischen und gesellschaftlichen ist, dass vor 40 Jahren es durchaus interessant gewesen wäre, die regionalen Besonderheiten der Kunst, insbesondere der Kunstakademien, zu zeigen, obwohl damals alle – Künstler wie Ausstellungsmacher – auf rein ästhetische Merkmale wert gelegt haben und nur autonome Kunst zeigen und sehen wollten.

Denn die Münchner Kunstakademie war in den 80er Jahren noch stark von der süddeutschen katholischen Kultur geprägt. Und mein Freund und Kollege Stephan Huber hätte gerne daraus ein Markenzeichen für die Akademie entwickelt, das bayerisches Weltbürgertum vermitteln sollte.

Nach der nationalistischen Kontaminierung der Münchner Akademie besann man sich beim Wiederanfang auf eine kunsthandwerkliche Moderne. In der Nachkriegszeit formte sich eine Bildhauertradition, die sehr stark von der alpenländischen Figürlichkeit des Schnitzhandwerks beeinflusst war. Ich denke hier an den Bildhauer Heinrich Kirchner. Und in der Malerei versöhnte man sich mit der Moderne, indem man den damals schon in die Jahre gekommenen Kubismus aufleben ließ und sich Paris zuwandte. Als Beispiel möchte ich Jean Deyrolle nennen. Sie sehen, der Titel dieser Ausstellung verweist – obwohl er ausgewürfelt wurde – durchaus auf die Geschichte unseres Hauses.

Durch diese Einflüsse entstand eine Nachkriegskunst an der Münchner Kunstakademie, die sich von den anderen Akademien in Deutschland absetzte. Als zwei Beispiele seien hier die Radikalität des Informells und des Fluxus in Düsseldorf genannt, oder auch die Medialität und Konzeptualität der Hamburger Akademie.

Feinstoffliche Kenner mit langjähriger Erfahrung der Szene meinen in der hohen Materialsprachlichkeit der Münchner Akademie und ihrer Liebe zur Formgebung bei gleichzeitiger Distanz zu konzeptuellen Rittbergern heute noch diese regionale alpenländische Einbettung zu erkennen. Die jungen Künstler*innen und Theoretiker*innen in München diskutieren diese Materialsprachlichkeit aber nicht als ihr katholisches Erbe, sondern als den letzten Trend in der Kunst. Der französische Soziologe und Philosoph Bruno Latour hat das Material als Mitspieler des Künstlers wieder hipp gemacht. Deshalb hatte unser Studiengang cx 2012 folgendes Jahresthema: Macht des Materials/Politik der Materialität.
Dieses Wiederendecken-Müssen des Materials zeigt mir als eingefleischtem Materialisten deutlich, dass gerade im katholischen München die regionale Prägung zugunsten einer internationalen Kunstsprache verschwindet.

Liebe Freund*innen der Kunst, diese Ausstellung der Münchner Akademie, die Sie hier gleich sehen werden, unterscheidet sich nicht in Stimmung und Bildsprachlichkeit von der der Studierenden aus Kiel. Auch die zukünftigen Ausstellungen von Studierenden aus anderen bundesrepublikanischen Landstrichen werden, fürchte ich, sich nicht wesentlich unterscheiden.

Es ist schon eine verkehrte Welt. Jetzt, wo man sich für die regionalen Unterschiede interessiert, sieht man von Sao Paulo bis Wladiwostok und von Tokio bis Hammerfest denselben internationalen Style von Gegenwartskunst. Die fortgeschrittene Postmoderne hat einen globalen Stil generiert. Ein Esperanto von ewiger Gegenwart. Es ist ein schwer durchschaubarer Mix von Spuren vormoderner mimetischer Kunst und modernen messianischen Zeichen.

Boris Groys hat in seinem Aufsatz „The Weak Universalism“ sehr anschaulich beschrieben, dass die Rolle der Künstlerin bzw. des Künstlers einerseits von modernen Begriffen wie Meisterschaft, Entlernen und Messianismus geprägt ist, andererseits aber von auch von Kunstbetrieb, Diskurs, bürokratischer Organisation und Kleinunternehmertum. Das Feld der Kunst lässt sich nicht mehr mit rein ästhetischen Kategorien beschreiben, sondern hat sich seit der Moderne sukzessiv erweitert und erobert seit mindestens 30 Jahren die angrenzenden Wissens- und Lebensfelder Philosophie, Soziologie, Wirtschaft, Psychologie und Ethnologie. Ganz abgesehen davon, dass der Journalismus die bildende Kunst hauptsächlich als Lifestyle und Wertanlage verhandelt und Heerscharen von Kunsthistoriker*innen Ihnen gerne auf diesem Gebiet eine Beratung anbieten. Im politisch-kulturellen Spektrum gehört die Kunst inzwischen auch zur Heimatpflege und ist identifikatorischer Teil von bürgerlichen Gemeinschaften geworden – gerade in evangelischen Gebieten. Wovon Sie hier in Marburg profunder Auskunft geben können als ich.
All dem und noch viel mehr ist eine junge Künstlerin oder ein junger Künstler heute ausgesetzt – die alten natürlich auch, nur die merken es nicht mehr. Weil sie entweder aufgrund ihres Erfolges oder ihres Misserfolges blind geworden sind, für die Bedingungen ihres Tuns oder Haderns.

Jeder banale Gegenstand kann zu einem Kunstwerk und jedes Kunstwerk kann zum banalen Gegenstand werden. Was „was“ ist in diesem Wechselspiel, entscheidet sich längst nicht mehr allein am Eingangsportal von Museen und anderen Kunstinstituten, sondern durchzieht als medialer Diskurs einen Raum, der ortlos ist und zum undurchschaubaren Labyrinth geworden ist. Heute wären wir froh um den Skandal eines Pissoirs im Museum. Wir wüssten, die Matrix steht noch.

Alles und Nichts gleichzeitig zu sein war das Gebot der Moderne. Es ist das schwache Zeichen, von dem Boris Groys im oben genannten Aufsatz redet. Im Schwarzen Quadrat von Malewitsch oder in den abstrakten Bildern von Mondrian sehen wir dieses schwache Zeichen prototypisch. Sie bedeuten nur sich selbst, wie Gott. Diese ewigen Zeichen waren so lange universell messianisch, bis Yves Saint Laurent seine Herbstkollektion von 1965 und Ikea Möbel daraus machte.

Die Moderne funktionierte so lange als Utopie, bis die Rezeption aus den schwachen göttlichen Zeichen starke menschliche Zeichen machte und etwas Bestimmtes darin erkannte. In diesem Moment ist nicht mehr nichts alles, sondern alles nichts, weil zur Ware geronnen oder zum Kitsch verkommen. Bei diesem Verrat an der Kunst war die Fotografie Wegbereiter, Akzelerator und Vollstrecker. Das war 1986 meine persönliche Motivation, von dem Paradies der Malerei in die Hölle der Fotografie zu wechseln.

Inzwischen ist mit dem Alltagsgegenstand auch der Alltag in die Kunst gekommen. Und mit diesem die vollkommene Unübersichtlichkeit.

Jetzt verstehen Sie vielleicht ein wenig, dass dieses offene Feld der Kunst, neben dem Leben, die spannendste Herausforderung im „als ob“ ist, dass es aber auch umgekehrt nach Sicherheit, Halt, Herberge und Richtung ruft. Deshalb sind die Kunstdiskurse zu Bojen und Orientierungsmarkern geworden. Und unter diesen Diskursen setzen sich die mächtigsten und weltweit verbreitetsten durch. Kunst ist nicht mehr universal, sondern international. Und auch hier regiert die stärkste Währung.

Im praktischen Betrieb von Akademien versucht man angesichts dieser Offenheit seinem kleinen Revier, seiner Meisterklasse, wieder Profil und Kontur zu geben. Die vormoderne Abgrenzung über bestimmte Kunsttechniken oder Gattungsbegriffe – von der Moderne auf die Müllhalde der Kunst geworfen – ist nun wieder probates Mittel, um sich zu positionieren, zu profilieren und abzugrenzen. Jetzt ist es wieder wichtig, ob man abstrakt oder gegenständlich malt. Technik, Stil, Gattung: Die Schubladen der Kunstgeschichte sind zu bergenden Behausungen geworden. Zusätzlich helfen Zugehörigkeiten unter idiosynkratischen und soziologischen Gesichtspunkten. Wer auf den Charts ganz oben steht, darf die Regeln bestimmen. Wie im Nachtclub gibt es nun Türsteher, die über in oder out entscheiden. Das beglückende Auserwähltsein oder die grübelnden Trauer „Warum nicht ich?“ wird zum Rätsel oder zur Unkenntnis über den richtigen Diskurs oder die angesagte Mode. Das Rätsel der Kunstwerke verschiebt sich zum Rätsel der Zugehörigkeit. Hier schließt sich der Bogen meines Parforceritts. Wir sind wieder beim soziologischen Auswahlkriterium.

An dieser Stelle kommt auch der Beruf der Kuratorin, des Kurators ins Spiel. Den gibt es nämlich erst seit 30 Jahren und er ist auch ein Symptom jenes eben beschriebenen Prozesses weg von der Ästhetik hin zur Soziologie und Historie.
Er ist der Spielmeister dieses soziologischen Feldes, unter dessen Bedingungen Ästhetisches verhandelt wird. Dass heute, mit Pola Sieverding, Marc Aurel und meiner Wenigkeit, keine Kuratoren vor Ihnen stehen bzw. stehen werden, um in diese Ausstellung einzuführen, sondern dass drei Künstler*innen diese Ausstellung zusammengestellt haben, zeigt sich an der Ausstellung selbst. Sie hat kein Thema, keinen Überbegriff, unter dem sich die einzelnen Werke mit ihren konkurrierenden Gattungen und Stilen subsumieren.

Sie sehen hier das Ergebnis einer Auswahl aus dem Versuchslabor Akademie, das als Übungsgelände in genau den strukturellen Spannungen steht, die ich eben skizziert habe. Sowohl, was die Lehrenden angeht, als auch, was die Studierenden betrifft. Auf der einen Seite das geistesgeschichtliche Erbe, die jüngste Kunstgeschichte, auf der anderen Seite die Politik, der Kunstmarkt und Sie, meine Damen und Herren, die alle Facetten von Sinnsuchen, Bescheidwissen und Vernügenwollen an die Kunst herantragen. Und mitten drin steht die und der einzelne Student, der alles riskiert hat: eine sichere Karriere als IT-Kraft hat sausen lassen, die sorgenden Eltern vergrämt und den Freund oder Freundin verlassen, weil die nicht versteht, was er in der Kunst sucht. Dieser Mensch studiert Kunst, um seine sublimatorischen und desublimatorischen Kräfte für ein geglücktes Leben zu mobilisieren.
Und hier haben wir die positive Seite der Soziologisierung der Kunst. Sie kann als Begehren nach Glück die emanzipatorischen Kräfte des Menschen fordern und fördern und, um pathetisch mit Nietzsche abzuschließen, aus passiven Nihilisten aktive Nihilisten machen und aus Menschen Übermenschen. Die Kunst, meine Damen und Herren, ist, wenn man darin eine bestimmte Praxis, verbunden mit der Genauigkeit zum Hinschauen, versteht, das einzige Feld, in dem man lernt, in der heutigen Welt der Trumps und Orbáns, der Fake News und Nationalismen erfolgreich zu navigieren.

 Michael Hofstetter, Juni 2019