Ulrich Mellitzer: Im Netz der Modelle Michael Hofstetters verschachtelte Weltentwürfe RIESENCAMERA. In diesem Wort liegt der Schlüssel zum Verständnis der Maschine, denn wenn man die kleine dunkle Kammer betreten hat, befindet man sich im Inneren einer Kamera, in der man selbst der Film ist, oder präziser, die Erinnerung ist der Film. David Knowles "Der Mensch der Gegenwart ist Projekt (V. Flusser), nicht mehr so sehr Subjekt – oder vielmehr: das Subjekt ist Projekt, ganz und gar Entwurf geworden. Entwürfe, so können wir annehmen, werden stets in einem Studio hervorgebracht (meinetwegen Ateliers, Werkstätten). … Das Studio selbst ist ein soziales System, und zwar ein offenes System, funktional zur Reduktion von Weltkomplexität angelegt (N. Luhmann). Das Studio oder Darstellungssystem, die Darstellungsebene des gesellschaftlichen Weltbildes, ist mithin durchaus auch seinerseits ein Bestandteil der Welt. Der Rand des Darstellungssystems ist eben Welt und Bild zugleich."1 In der Bühneninstallation des Theaterstücks "Hamletmaschine" von Heiner Müller, wo der Hamlet-Darsteller vom Ende der Rollen inklusive deren Körper und den dazugehörigen Räumen spricht, also die Konsequenzen postmoderner Diskursmodelle reflektiert und dadurch auf immanente Weise dem Theaterspiel etwas von jenem verbissenen Ernst eigener Legitimationsstrategien nimmt, hat Michael Hofstetter diesen Versuch einer totalen Auflösung des Hamletvorbilds in bloße Text- und Bildfragmente in ein Bühnenbild umgesetzt, in dem jenes berühmte Hamletsche grüblerische Denken in 48 kubische Bedeutungsfelder verschachtelt aufgegliedert und in Form von Applikationen textueller, aber auch rein begrifflicher Elemente zu geometrisch materialisierten Sprech- oder Gedankenblasen transformiert worden ist, zwischen denen sich die Theaterfiguren "(wirklichkeits)bausteinspielend" zu positionieren versuchen. Dabei entstehen Möglichkeitsformen von Weltbildern oder Szenarien theatralischer Wirklichkeit, die einerseits, bedingt durch das Stück selbst, fortdauernd an sich selbst zerbröckeln und andererseits am multimedial angelegten "Kunstereignis" Bühne2 samt deren minutiös gesteuerten, computerisierten Ablauf von realen und fiktionalen Bildern und Objekten an den Rand ständiger Veränderung bzw. Auflösung gebracht werden. "Das Modell kennt uns nur als Spieler, als Flaneure und als Wartende" schreibt Michael Hofstetter in einem Katalogbeitrag3 zu seinem Werk "Blind Living Room", 1991, wo jene Verschachtelungen und Irreführungen, die oft in engem Bezug zum Versuch differenzierter Ortsdefinition stehen, am Beispiel eines Modells vom ehemaligen New Yorker Appartement des Künstlers weitergeführt werden. Indem die vom Appartement aus fotografierte Außenwelt zum Interieur des Interieurs des Modells künstlerisch stilisiert wird, wird innere und äußere räumliche Wirklichkeit als selektive und apparative Wirklichkeit verdeutlicht, in der Fiktionalität und Realität zu einem "grausamen" Verwirrspiel verkettet sind. Die möglichen Figuren darin haben sich längst verflüchtigt oder existieren bestenfalls, wie in der Installation "Sous-Terrain", als Abbild ihrer selbst, nur noch umringt von begrifflich formulierten Sinneseindrücken. Der "Spieler, Flaneur und Wartende" spielt, flaniert und wartet immer außerhalb der von ihm gerade auf- und damit auch angenommenen Welt. Denn in dem Moment, wo sich dessen Blick auf irgendeine Wirklichkeitsebene eingestellt hat, wird dieser auch schon wieder mit diesbezüglichen Veränderungen konfrontiert. An der Schnittstelle zwischen Fiktion und Realität, die ein Ort prinzipieller Ortlosigkeit ist, zerbricht jegliche subjektive Konzeption von kategorisch angelegter Weltfindung. Vorbei ist jenes räumlich noch aufschlüsselbare Verwirrspiel wie in der "Metapherntrommel" aus dem X. Buch der "Ars Magna Lucis et Umbrae" (1646) von Athanasius Kircher, wo der Akteur noch einen Raum betreten muß, um dann dort in einen gekippten Spiegel schauend und via einer Metapherntrommel (= versteckte Bildquelle) mit völlig verqueren Bildern "von sich selbst" kompromittiert bzw. mit surreal anmutenden Umbrüchen von Wirklichkeit konfrontiert zu werden. Draußen bekommt ein weiterer Betrachter jenes synthetisch hergestellte Spiegelbild, das sich aus einem Bild der Drehorgel und dem Betrachter im Innenraum zusammensetzt, aus dem Innenraum projiziert.4 Auf diese Weise bezieht Athanasius Kirchers antiker Überblendbildprojektor seine Bildmagie aus der figurativen und apparitiven Aktion innerhalb einer begehbaren, innenräumlichen "Festplatte". Geblieben ist jenes bildliche Festhalten von Wirklichkeit in Form einer Konstruktion von "Schachteln" verschiedenster Form und Größe. Jener Camera-obscura-Effekt, von dem etliche Kunsthistoriker/innen behaupten, er habe zum Beispiel die Landschaftsgemälde von Vermeer überhaupt erst interessant gemacht, taucht bei den künstlerischen Arbeiten von Michael Hofstetter auf verschiedenste Weise immer wieder auf. Egal ob als realer Raum ("Der Platz des Königs", 1991), ob als Verquickung beider räumlicher Varianten in realer und modellhafter Anlage ("Die Wachheit des Traums", 1993; "Von allem entfernt/alles beherrschend", 1994) oder als bewußte Nachbildungen solcher Kameras ("Oram Littoris Primi Lego", 1990), der projektive Charakter eines aus seiner real genormten Dimension verschobenen Weltbilds, das oft zu gleichen Teilen in Bild und Text aufgeschlüsselt ist, tritt stets in den Vordergrund. Dabei dienen sogenannte Ausschnitte realer oder fiktiver Wirklichkeit den multivalenten "Abbildungssystemen" von Michael Hofstetter, die von ihm auch theoretisch kommentiert sind, nach wie vor als Basiselemente. Allerdings verhindert die künstlerische Installation trotz einer solchen modernistisch anmutenden Ausgangslage, die einen linear "fortschrittlichen" Diskursweg von Realität A nach künstlerischem Ergebnis B vorzeichnet, dann eine diesbezüglich genormte Interpretation. Denn als Bild-Text-Verteilerpunkt wird die künstlerisch modellierte Welt von Michael Hofstetter von derartig vielen einschneidenden Werkzäsuren unterbrochen, daß dem eigentlich nur mit der Binsenweisheit "It Depends On Your Selection Of The World" (siehe gleichnamiges Werk, 1992) begegnet werden kann. Dabei zieht jede noch so simple diesbezügliche Selektion unweigerlich eine spezifische Formatierung von Wahrnehmung nach sich. "Jede Form der Darstellung schließt die Aneignung eines Wahrnehmungssystems (einer Art des Sehens) ein, und diese Aneignung unterliegt den semiotischen Erfordernissen sinnlichen Wertedenkens unter bestimmten sozialen Bedingungen".5 Umgekehrt steht dem ein künstlerisch entwickeltes Sprachsystem von Michael Hofstetter gegenüber, dessen "übergeordnetes Verhalten extrem komplex ist, während [seine] fundamentalen Bestandteile für sich gemessen sehr einfach sind".6 Das Problem liegt also in der vielfältigen Möglichkeit der Koppelung beider Systeme, bei der sich die eigentliche Komplexität des Werks von Michael Hofstetter aus der "Menge von Informationen" ergibt, die sowohl "während des [künstlerischen, Anm. d. Verf.] Entstehungs- und Entwicklungsprozesses aussortiert"7 bzw. ausgerichtet als auch bei der Rezeption des Werks sozusagen kommunikativ strukturiert und bisweilen auch völlig neu formiert wird. 1 Holger van den Boom, Digitaler Schein – oder: Der Wirklichkeitsverlust ist kein wirklicher Verlust, in: Florian Rötzer (Hg.), Digitaler Schein. Ästhetik der elektronischen Medien, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1991, 183-204; 185/6. 2 zit. n. Konzeptpapier "Hamletmaschine": "Spiel mit dem Computer - computerisiertes Spiel: ein multimediales Kunstereignis", 7. 3 Ausstellungskat. "Modell", Pasinger Ritterwerke, München 1992, o. S. 4 Siegfried Zielinski, Expanded Reality, in: Florian Rötzer, Peter Weibel (Hg.), Cyberspace. Zum medialen Kunstwerk, Boer Verlag, München 1993, 47-64, 52/3. 5 Robert W. Witkin, Von der "Berührung" der alten zum "Blick" der Neuzeit. Gesellschaftliche Strukturen und die Semiotik der ästhetischen Form, in: Georg Schöllhammer, Christian Kravagna (Hg.), Real Text. Denken am Rande des Subjekts, Ritter Verlag, Wien 1993, 90. 6 Tor Norretanders, Spüre die Welt. Die Wissenschaft des Bewußtseins, Rowohlt Verlag, Reinbek b. Hamburg 1994, 116; Norretanders diesbezügliche Ausgangspunkte sind allerdings naturwissenschaftlicher Art, die sich m.E. aber gut auf den geisteswissenschaftlichen Kontext der Arbeiten von Michael Hofstetter ummünzen lassen. 7 siehe dazu Tor Norretanders, Spüre die Welt. Die Wissenschaft des Bewußtseins, Rowohlt Verlag, Reinbek b. Hamburg 1994, 137. | 1995 Hamletmaschine Hamletszene Michael Hofstetter, "Hamletmaschine", 1995, Bühnenbild |