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Michael Hofstetter, Das Fortschreiben der Umstände
Katalog mit Arbeiten von 1990 bis 1995

Im Horizont der Medien
Heinz Schütz spricht mit Michael Hofstetter


S: Jedes Kunstwerk - selbst das konzeptualistische - beinhaltet ein Moment von sinnlicher Präsenz. Verabsolutiert man diesen Aspekt, läßt sich daraus die Forderung ableiten, daß Kunst aufgrund der unmittelbaren Wahrnehmung aus sich selbst verständlich sein soll. Welche Rolle spielt der Begriff respektive die außerkünstlerische Theorie in deiner Arbeit? Besteht nicht mitunter die Gefahr, daß der theoretische Überbau dominiert?

H: Das ist ein gängiger Vorwurf, den ich nicht teilen kann. Ich bin ein Anhänger einer benutzerfreundlichen Oberfläche, deshalb versuche ich, meine Arbeiten sehr sinnlich und sehr einfach zu gestalten.

S: Du meinst also, daß deine Arbeiten wesentlich über die sinnliche Wahrnehmung funktionieren?

H: Ja, das ist für mich die Voraussetzung jeder bildnerischen Arbeit. Es gibt eine Tendenz innerhalb der konzeptuellen Kunst, die sich völlig auf den Begriff verläßt und dabei mitunter Gefahr läuft, bloße Illustration zu werden. Konzeptuelle Kunst muß aber, wie jede andere Kunstform auch, als Kunstwerk letztlich selbständig funktionieren. Sie muß sich von der Intention des Herstellers freimachen und als frei flottierendes Gebilde existieren können - unabhängig vom Produzenten und dessen Hintergrund und unabhängig vom Rezipienten und dessen Hintergrund.

S: Ist dies tatsächlich möglich?

H: Natürlich ist die Forderung nach Unabhängigkeit, obwohl sie eine gängige im Horizont des autonomen Bildes ist, nicht wirklich einzulösen. Letztlich bindet sich jedes Gebilde zurück an seine Herstellungs- und Rezeptionsbedingungen. Dies gilt auch für die Kunst. Wenn ich "unabhängig" sage, versuche ich mich von einer bestimmten Richtung der konzeptuellen Kunst abzugrenzen, die strategisch in Hinblick auf den Betrachter entwickelt wird, mit ganz gewissen Vorstellungen und Ideen spielt und darauf abzielt, daß der Betrachter diese Vorstellungen affirmiert oder kritisiert. Da diese Form konzeptueller Kunst in der Abhängigkeit von den in sie gesetzten Bedingungen verharrt und diese nicht überwinden möchte, verwende ich im Kontrast dazu das Wort "unabhängig".

S: Es gibt keine Wahrnehmung, die unabhängig von - im weitesten Sinne - Theorie ist.

H: Mich interessiert der Erwartungshorizont des Betrachters, und dieser Erwartungshorizont ist als Ideologie ein sehr interessanter. Innerhalb dieses Erwartungshorizontes wird vom Kunstwerk eine größtmögliche Projektionsfläche als Rezeptionsoffenheit verlangt. D. h. es soll eine Angriffsfläche bieten, an der sich der Rezipient mit seinen Vorstellungen, seinen Wertmaßstäben und seinen sozialen und politischen Anschauungen spiegeln und bestätigen kann. Eigentlich liegt in dem gegen mich gerichteten Vorwurf, ich sei zu theoretisch, eine Ungenauigkeit. Dieser Vorwurf ist letztendlich der hilflose Versuch einer Antwort auf die Frage, warum man sich in meinem Werk mit seinen Vorstellungen nicht auf einfache Weise wiederfindet.

S: Die rezeptive Offenheit des Kunstwerkes wurde insbesondere von der Phänomenologie und der Rezeptionsästhetik als ästhetische Qualität entdeckt. Im Sinne der Rezeptionsästhetik besteht eine andere ästhetische Qualität darin, daß das Kunstwerk den bestehenden Erwartungshorizont durchbricht. Insofern ist der Betrachter, der nur seine eigenen Erwartungen gespiegelt sehen möchte, ein schlechter Kunstbetrachter. Gehen wir von einem naiven Betrachter deiner Arbeiten aus. Er sieht sie und versteht sie womöglich nicht. Du trittst hinzu und erklärst sie ihm. Möglicherweise reagiert er nun verärgert, da er das, was du sagst, nicht gesehen hat.

H: Ganz im Gegenteil. Gerade kürzlich kam es zu einer typischen Reaktion auf meine Arbeit. Jemand sah die Arbeit "an - Stelle - von" in Köln. Wir kannten uns nicht, er wußte auch nicht, was ich sonst mache. Eine Woche später begegneten wir uns anläßlich eines Vortrages von mir. Er erzählte, wie maßlos er sich über meine Arbeit geärgert habe und mit ihr ohne weitere Erklärung nichts anfangen konnte, obwohl er sah, daß alle Momente der Arbeit bewußt gesetzt waren.

an - Stelle - von, 1995, indexikalisches Feld aus zwei Arbeiten: Otto Hütte, 1995; Ohne Mich, 1995an - Stelle - von, 1995, indexikalisches Feld aus zwei Arbeiten: Otto Hütte, 1995; Ohne Mich, 1995
S: Dies könnte nun an einer gewissen Hermetik deiner Arbeiten liegen oder an der Ungeübtheit des Betrachters in der Wahrnehmung von Kunst. Unabhängig davon stellt sich für mich die Frage: Wie gestaltet sich das Verhältnis von künstlerischer Intention und rezeptiver Freiheit? Wenn du, was du gewöhnlich mit großer Eloquenz und theoretischem Wissen betreibst, deine Arbeiten erklärst, verschwindet dann nicht der rezeptive Spielraum? Wird die Arbeit am Ende nicht durch die Erklärung ersetzt?

H: Nein. Sicher, jeder hat die Freiheit, sich von der Kunst das zu nehmen, was er sich von ihr wünscht. Aber grundsätzlich würde ich sagen, daß meine Ausführungen zu meiner Arbeit keine Erklärungen sind. Wenn ich mich zu meinen Arbeiten äußere, dann versuche ich, den Hintergrund, die Folie, das Feld, das geistige Koordinatensystem zu erläutern, woraus meine Arbeiten entstanden und wovon sie sich emanzipieren, d. h. über ein illustratives Verhältnis hinauskommen sollen. Das Wort Erklärung hat im Kunstzusammenhang für mich immer etwas Negatives. Ich würde mir statt dessen so etwas wie eine kongeniale Rezeption, ein Wiederherstellen der Arbeit mit Mitteln der Sprache wünschen. Also insofern habe ich ein ganz romantisches Anliegen hinsichtlich der rezeptiven Haltung. Der Rezipient soll dabei die Position einer negativen Produktionsseite einnehmen und das Werk in all seinen Momenten sehen, durchwandern, begreifen und damit erst im eigentlichen Sinne erstellen. Meine eigene begriffliche Leistung spielt dabei letztlich keine Rolle.

S: Vielleicht ist "erklären" das falsche Wort. Vielleicht wäre es besser zu sagen: du lädst das Werk mit Bedeutung auf, du führst es auf die Bedeutungsebene über, innerhalb derer du denkst. Darin könnte man eine Art Allegorisierung sehen. In der Allgorie steht das sinnliche Artefakt im Dienst der Idee.

H: Grundsätzlich interessieren mich in gleichwertiger Weise zwei Repräsentationsfiguren, zum einen die indexikalische Spur und zum anderen die piktorale Präsenz. Diese beiden Repräsentationsmodelle scheinen sich, schaut man die Kunstgeschichte an, auszuschließen. Die Künstler haben sich, das gilt besonders für das zwanzigste Jahrhundert, jeweils für das eine oder das andere Modell entschieden. Zwischen den Anhängern der beiden Modelle gab es und gibt es so etwas wie einen Ideologienstreit. Es geht dabei um die Frage, wieviel bewußt gesetzte Bedeutung ein Bild aufweisen darf. Die indexikalische Fraktion, in der John Heartfield sicherlich eine zentrale Figur darstellt, wehrt sich gegen jegliches nicht semantisierte Bildmoment. Ihr geht es darum, den sinnlichen Schein im Bild zu minimieren, weil der sinnliche Schein dem ideologischen Anspruch der Bourgeoisie an ein Kunstwerk entspricht, welche die Widersprüche der Welt ins Ästhetische bzw. Geschmackliche auflösen möchte. Die piktorale Fraktion, welche das schwarze Quadrat von Malewitsch am besten repräsentiert, ist der Auffassung, daß in der Kunst intentionale Bedeutung keinen Platz hat, weil dadurch das Bild in ein illustratives Verhältnis zur Welt tritt und bis zur Agitprop verkommen kann. Sie beansprucht für das Kunstwerk vollkommene Autonomie, weil es nur so seine totale, allumfassende und essentielle Qualität erreichen kann. Diese beiden Repräsentationsfiguren nicht als einander ausschließende, sondern als einander bedingende und ergänzende gleichwertig zu behandeln, ist, ganz abstrakt gesehen, ein zentrales Anliegen meiner Arbeit.
In unserer Alltagswelt sind diese beiden Momente in den Reklametafeln, in den Nachrichtensendungen und auf jeder Zeitungsseite schon vereinigt. Hierbei stehen Information/Aufklärung und Verharmlosung durch bildnerische Fiktionalisierung gleichwertig nebeneinander. Daher mein sehr frühes Interesse an Zeitungen. In der Bildzeitung zum Beispiel ist das Verhältnis von Text und Bild ein frei flottierendes. Dabei entsteht mitunter ein allegorisches Verhältnis. Eine derartig freie Verknüpfung ist eine Verfahrensweise, mit der ich häufig gearbeitet habe. Ich habe in die Motive, welche ich fotografieren wollte, Begriffe hineinmontiert. Scheinbar liefert der Begriff in der Fotografie die Erklärung des Bildes. Aber der Begriff wie auch das Bild gehen ein ungenaues Abbildungsverhältnis zur Welt ein, und obwohl ich mich von zwei Seiten der Welt nähere, verbleibt ein Abbildungsloch. Der in das Bild einmontierte Begriff wird verbildlicht und gleichzeitig wird das Bild verbegrifflicht. Dieses Zusammenspiel stellt sich ja schon ein, wenn ich ein Linienraster über ein Bild lege.

S: Sobald ein Begriff auftaucht, erscheint das Bild unter dem Aspekt des Begriffes.

H: Ja, aber gleichzeitig wird das Bild unter dem Aspekt des Begriffes verunklärt, weil beide nicht deckungsgleich sind. Ein Bild, z. B. jede x-beliebige Fotografie, funktioniert erst einmal unter bildnerischen Gesichtspunkten. Ein Begriff ist bildnerisch betracht zunächst eine Störung, eine Verunklärung. Z. B. würde der Betrachter in dem Werk

 

 Faux Raisonnement Fait De Bonne Foi, 1989, 6 teilig, Siebdruck auf Markisenstoff Faux Raisonnement Fait De Bonne Foi, 1989, 6 teilig, Siebdruck auf Markisenstoff

"Faux Raisonnement Fait De Bonne Foi", zöge man den einkopierten Begriff ab, ein äußerst dekoratives abstraktes Muster sehen, was für ihn ein vollkommen einleuchtendes und funktionierendes Bild wäre. Nun steht aber auf diesen Bildern in französischer Sprache "Das Sehen", "Das Hören", "Das Riechen", "Das Fühlen", "Das Schmecken", also alle fünf Sinne, und dann noch zusätzlich als quasi sechster Sinn "Meinem einzigen Verlangen". Was natürlich jeden zur Frage veranlaßt, was haben blaue, rote und gelbe Streifen, die sich perspektivisch verjüngen, mit dem Hören, Sehen, Schmecken, Riechen usw. zu tun.

S: Der Zusammenhang ist nur als willkürliche Konstruktion herstellbar.

H: Die von mir vorgenommene Verknüpfung ist eine kunstgeschichtliche Zuspitzung alltäglicher Verknüpfungsarten. Der Pariser Bürger oder der Besucher von Paris sieht überall solche und ähnliche Muster in Form von Markisen, auf denen Worte wie "Hôtel" oder "Légumes" einkopiert sind. Was hat "Légumes" mit roten, gelben und grünen Streifen zu tun? Nichts! Und dennoch habe ich noch niemandem gehört, der diese willkürliche Konstruktion von Wort und Bild kritisch hinterfragt hat. Im alltäglichen Leben erscheint eine solche Verbindung völlig normal. Im Kunstkontext wird dieses Problem der arbiträren Verknüpfung von Wort und Bild zum Problem der Kunst und nicht der Wirklichkeit. Die mediale Fiktionalisierung von Wirklichkeit, zu der die Markisen genauso gehören wie die Reklame und die Straßenschilder, macht deutlich, daß jedes Bild mit jedem Begriff verknüpft werden kann. Dies ist der Hintergrund meiner allegorischen Arbeiten.

S: Im Hintergrund der Allegorie steht der Satz: Alles kann alles bedeuten. Die Allegorie beeinhaltet ein Moment der Konstruktion. Sie wiederum hängt vom Blickwinkel ab, der sich auf die Welt richtet. Man könnte in diesem Zusammenhang deine Arbeit "It Depends On Your Selection Of The World" heranziehen. Die Art der Wahrnehmung konstituiert das Wahrgenommene mit. Allerdings wäre es m. E. verkehrt, in "It Depends On Your Selection Of The World" nur die Illustration einer perspektivischen Erkenntnistheorie zu sehen.

It Depends On Your Selection Of The World, 1992, 110 x 360 x180 cm, Holz, Neon, DiasIt Depends On Your Selection Of The World, 1992, 110 x 360 x180 cm, Holz, Neon, Dias
H: Dies war auch nicht mein Interesse bei dieser Arbeit. Mir ging es vielmehr nochmals darum, ein Repräsentationsmodell zu erstellen, in dem sich das formale Spiel z. B. eines Sol LeWitt zwischen Teil und Ganzem, Ausschnitt und Totalität wieder semantisiert und rückbindet an das Verhältnis von Begriff und Bild. Wenn man will, kann man daraus die Problematik ablesen, aus der heraus die Allegorie entstanden ist. Die Allegorie entstand mit der Endlichwerdung der Welt, mit der Reduzierung der Welt auf den menschlichen Sinnesapparat, wobei der Augensinn in Verbindung mit den rationalen Fähigkeiten des Menschen der wichtigste wurde. Diese Endlichwerdung der Welt als Verlust einer Totalitätserfahrung, welche bis dahin durch den Glauben bis in alle Lebensbereiche hinein verbürgt war, reduziert das menschliche "Schauen auf Welt" auf einen Ausschnitt. Dieser Verlust wird nun über die Rationalität, über die Begriffe kompensiert. Dies ist die Geburtsstunde der Allegorie. Über die unterschiedlichen Repräsentationsleistungen von Begriff und Bild haben wir vorhin schon einmal gesprochen. Was mich nun bei diesem Werk hinsichtlich des Spiels von Ausschnitt und Ganzem interessierte, war die Tatsache, daß die Bilder ein anderes Verhältnis zueinander haben als die Wörter. Die Wörter "It Depends On Your Selection Of The World" bilden zusammen einen Satz und ergänzen sich. Dieser Satz zieht sich über drei Fotografien. Die Fotografien ergänzen sich aber nicht, sondern ersetzen sich gegenseitig.

S: Die drei Bilder zeigen dasselbe Motiv mit verschiedenen Brennweiten fotografiert. Sie stehen auf einer Linie und unterscheiden sich in verschiedenen Graden der Totalität des gelieferten Weltausschnittes.

H: Die Linie vollführt eine Zoombewegung. Der Zoom verläuft entsprechend der Leserichtung von links nach rechts.

S: Auf der einen Seite demonstrierst du die Weltfragmentierung, auf der anderen Seite versuchst du, eine Totalität aufrechtzuerhalten. Darin könnte man z. B. einen Unterschied zum Allegorienverständnis Walter Benjamins sehen. Die Totalität ist hier vollständig in Fragment und Ruine zertrümmert.

H: Das Bild der Ruine ist ja an Totalität eng gekoppelt. In der Romantik versinnbildlicht sie den Schmerz über den Verlust von Totalität. Hier wird Totalität ex negativo konstruiert. Die Form des Fragments als glaubwürdige Abbildungsform steht ja für das nicht mehr herstellbare Ganze. Im Fragment steckt aber die Sehnsucht nach dem Ganzen, und es ist deshalb ein Dokument der Trauer. Aus dieser Trauer entspringt ein ironisches Weltverhältnis, das gezwungenermaßen relativistisch ist. Gewißheit über die Welt hängt vom jeweiligen Standpunkt zur Welt ab, und da der Standpunkt ständig wechselt, ist Gewißheit nur von kurzer Dauer. Das statische Modell des Gegensatzes von Fragment und Ganzem überführt Benjamin in ein dynamisches. Das Ganze ist nun nicht mehr der Kosmos, den es in seiner Gesamtheit zu schauen gilt, sondern die Geschichte als Heilsgeschichte. Das Fragment ist dabei der Augenblick. Der Mensch hat zu den Dingen der Welt nur noch ein zeitlich begrenztes Verhältnis. Er ist der Flaneur, der mal hierhin, mal dorthin schaut, der mal dies, mal jenes erkennt. Sein Blick bringt die Dinge zum Erwachen. Während er aber rezipiert, vollzieht er gewohntes Leben, produziert somit quasi negativ einen Traumzustand. Er wacht erst wieder auf, wenn die Mode wechselt oder ihn der Blick eines Gegenübers trifft. Dieser Vorgang des immer präsentischer Werdens von Welt ist in diesem Werk durch die Zoombewegung enthalten.

S: Laß uns nochmals zum Verhältnis von Rezeption und Selbstexplikation zurückkommen. Wie die zusammen im Verhältnis stehen. In der Arbeit "Was für Abweichungen wenn man gewisse Umstände ändert" verwendest du die drei Heiddegger-Begriffe Physis, Polemos und Aletheia.

 

Was für Abweichungen, wenn man gewisse Umstände ändert, 1990, ortsspezifische InstallationWas für Abweichungen, wenn man gewisse Umstände ändert, 1990, ortsspezifische Installation

In einem Text erklärst du zum einen, warum du die Worte nicht mit griechischen Buchstaben, sondern mit den von uns benutzten lateinischen Buchstaben schreibst. Zum anderen verweist du auf die Funktion der historisch antikisierenden Tapisserien. In beiden siehst du Aneignungen zur Selbstkonstitution des Subjektes. Für den Rezipienten, der im Alltag den Umgang mit lateinischen Buchstaben gewöhnt ist, ist es nun überhaupt nicht selbstverständlich, daß die Buchstabenart ein konstitutives Merkmal der Arbeit darstellt. Dasselbe gilt für die Tapisserien, die außerhalb deiner Arbeit die Wand schmücken. Der Zusammenhang, den du zwischen den Tapisserien und den Buchstaben herstellst, ist zwar stringent, aber keineswegs offensichtlich.

H: Wie die meisten meiner Arbeiten entstand diese Arbeit nicht im Atelier, sondern in Auseinandersetzung mit dem Ausstellungsraum, also in diesem Fall mit der Aula der Akademie der Bildenden Künste. Für eine Arbeit sammle ich alle verfügbaren Informationen über den Raum. Dadurch ergibt sich ein großes Reservoir an indexikalischen Hinweisen. Nun bekommt man ja nur eine Antwort auf das, wonach man gefragt hat. Zu diesem Zeitpunkt stand im Zentrum meines Arbeitens die Frage nach der Geschichte, der Architektur, des Stils und der sozialen Funktion des Raumes. Heute tritt z. B. noch die Frage nach dem Image des Raumes, nach dem Gerücht in der Öffentlichkeit über diesen Raum hinzu. Die Fragen, die man dem Raum stellt, definieren auch den Ausschnitt der möglichen Hinweise, welche einem der Raum gibt. Trotz dieser notwendigen Einschränkung sind alle diese Informationen für jeden verfügbar. Insofern bilden diese Gegebenheiten den Kosmos, die Struktur, die Semantik, innerhalb derer ich mich künstlerisch bewege.

S: Du hättest etwa auch den Fußboden mit einbeziehen können. Woran erkennt man, welche Elemente als Teil deiner Arbeit gemeint sind?

H: Der Fußboden ist im Gegensatz zu den Tapisserien kein signifikantes Merkmal der Aula der Akademie. Dieser könnte ebenso gut in jedem anderen Raum sein. Ich sprach ja schon davon, daß das jeweilige Interesse immer die Informationen bestimmt, die ich erhalte. Ich stellte nicht das enzyklopädische Wissen über diesen Raum aus, auch nicht mein eingeschränktes Wissen, sondern das Beispiel einer möglichen Schnittstelle zwischen den objektiven Gegebenheiten des Raumes und dem subjektiven Wunsch der Benutzer an diesen Raum. Das Besondere dieses Raumes ist ja, daß er selbst die Manifestation einer Schnittstelle ist - und zwar zwischen der deutschen Ideologie um die Jahrhundertwende und den Griechen der Antike. Wenn es so etwas wie eine Intention in dieser Arbeit gab, dann die zu zeigen, daß scheinbar objektive Gegebenheiten, wie z. B. diese Aula der Akademie nichts anderes als Manifestationen der Rezeption sind, in diesem Fall der griechischen Antike, so wie das fotografische Bild, daß ich von dem Raum gewann. Und wenn man die Umstände ändert, erhält man auch andere Ergebnisse. Meine Arbeiten sind nicht so situiert, daß man sagen könnte, sie seien, wie im Expressionismus, eine Spiegelfunktion meines künstlerischen Ichs. Sie sind aber auch nicht, wie im Konstruktivismus, der Versuch, objektive Gegebenheiten in eine strukturelle Bildanalogie zu überführen. Eine Gemeinsamkeit aller meiner Arbeiten ist der Versuch, eine relevante Schnittstelle des jeweiligen Raumes zu finden. Mich interessiert das flottierende Verhältnis zwischen der Ausschnitthaftigkeit des Subjekts und der Ausschnitthaftigkeit des Objekts bzw. die begrenzte Möglichkeit des Wahrnehmens und die begrenzte Möglichkeit des Wahrgenommenen.

S: Wir sprachen zu Beginn über konzeptualistische Komponenten in deiner Arbeit. Laß uns deine Arbeiten mit dem früheren Konzeptualismus vergleichen. Wenn etwa Kosuth Bilder verwendet, dann sind sie Teil eines Feldes, in dem Sprachspiel, Erkenntnis und Wahrnehmung in Beziehung gesetzt werden.

H: Der Konzeptualismus von Kosuth ist in seinem Frühwerk total selbstreflexiv und hermetisch. Letztlich steht hinter jeder Art von Konzeptualismus die Frage nach der Begründung von Kunst. Kosuth versucht ganz in der Tradition des Minimalismus, die Frage dahingehend zu beantworten, daß alle künstlerischen Setzungen in einer quasi deduktiven Methode sich selbst reflektieren. Er steht dabei ganz in der Tradition der angelsächsischen Sprachanalytiker. Hier geht es um die Frage, was repräsentiert die Sprache, was kann sie leisten, was kann man sagen, was kann man nicht sagen, wie ist die logische Struktur der Sprache verfaßt. Die dort erarbeiteten Methoden und Fragen übernimmt Kosuth für die bildende Kunst. Letztlich ist dies auch ein Versuch, die rezeptive Grauzone am Bild, jenen bildnerischen Mehrwert der Geschmacklichkeit auszumerzen, also die semantische Offenheit des Bildes einzugrenzen. Es geht darum, die Rezeption des Bildes vollkommen vorauszubestimmen und alle darin gesetzten Momente durch das Kunstwerk selbst wieder auszuweisen. Vergleicht man nun diese Auffassung von Konzeptualismus mit meiner Auffassung, so ist bei mir die Erfahrung vorherrschend, daß der Versuch vollkommener Selbstreflexivität, wie ihn z. B. Kosuth unternimmt, nur für den Zeitraum der Produktion gilt. Als hergestelltes Objekt tritt das Kunstwerk aber in die Geschichtlichkeit ein. Dort ist es dann den sich ständig ändernden Rezeptionsbedingungen ausgeliefert. Die Rezeption eines Werkes läßt sich aber nicht durch die Produktion vollständig vorherbestimmen. Kein Werk ist hermetisch, sondern weist offene Stellen auf. Die Offenheit zeigt sich an den Verschiebungen der Kontexte, an der Tatsache, daß Kunstwerke wie alles andere zur Ware werden, daß sie von Reflexionsobjekten zu Tauschobjekten werden etc. Diese Verschiebung von Sinn durch Ingebrauchnahme durch die professionelle Rezeption der Galeristen, Kuratoren und Kritiker ist die Grunderfahrung, die zeigt, daß es so etwas wie eine vollkommene Selbstreflexivität nicht geben kann. Diese Strategie kam daher für mich nicht in Frage. An einem Punkt muß jedes Werk notwendig offen bleiben: eine werkimmanente Antwort auf die Frage, warum der Künstler überhaupt dieses Werk produziert, ist nicht möglich. Dieser nicht geklärte Ursprung schließt sich mit der Verfügbarkeit der Rezeption am Ende des Werkes kurz. Mich interessiert nicht, ein Werk möglichst "wasserdicht" zu machen. Ich möchte die Verführbarkeit eines Werkes aufzeigen, die Schnittstelle, das Loch benennen, wo die Produktion in die Rezeption übergeht, wo sich ein Werk mit der Welt verschneidet.

S: Während sich etwa der frühe Kosuth weitgehend im sprachanalytischen Feld bewegt, reflektierst du immer wieder die apparativen Bedingungen der Kamera und die Bedingungen des fotografischen Bildes.

H: An der Fotografie zeigt sich, daß die Übersetzung von Wirklichkeit in ein Repräsentationssystem viel komplexer und vielschichtiger ist, als es die sprachanalytische Philosophie annimmt. Es ist falsch zu glauben, man könne die Leistung der Sprache als Repräsentationssystem vollkommen logisch bestimmen. Durch Bertrand Russells Auflösung des einzigen Widerspruchs im logischen Repräsentationssystem schienen alle Probleme gelöst zu sein. Nun ist die Sprache, wie jedes Repräsentationssystem, meinem Verständnis nach viel komplexer und unbestimmbarer, als die analytische Philosophie es sich wünscht. Dennoch hat die analytische Philosophie viel zur Erhellung des Repräsentationssystems Sprache beigetragen. Als gekörnte Übersetzung von Wirklichkeit hat die Fotografie durchaus formale Parallelen mit der Struktur der Sprache. Die Schwarzweißverteilung ist das fotografische Alphabet. Das Sehen wird ein Lesen. Das Gesehene wird zum Text. Diese textuelle Struktur von syntagmatischer und paradigmatischer Beziehung der Körnung ist die eine Seite der Fotografie; die andere besteht in ihrer indexikalischen Verweisfunktion. Fotografie verweist immer auch auf eine außerbildliche Wirklichkeit. Sie ist nicht nur analogisiertes Bild, sondern auch Bild von etwas. Dieser fotografischer Verweis: "Da muß etwas gewesen sein, sonst gäbe es kein Bild davon", ist das Magische an der Fotografie. Dies klingt banal, aber wenn ich eine Fotografie des 19. Jahrhunderts von einem Straßengeschehen in Paris anschaue, überfällt mich immer ein kurzer Schauer des Vergangenen und des Verschwindens. Dies ist, im Vergleich zum persönlich erlebten Erinnern, eine ganz andere Art des Erinnerns. Das Erinnern von persönlich Erlebtem ist eingebettet in die Kontinuität des eigenen Lebens. Eine Fotografie aus dem 19. Jahrhundert ist der Einbruch einer anderen Wirklichkeit in die meinige und deshalb letztlich ein Dokument des Verlusts von Identität. Diese zwei Seiten der Fotografie, ihre gleichzeitige Selbstreferenz und Weltreferenz, sind das Ergebnis des Apparatprogramms der Kamera. Der Schnittstellencharakter des Fotoapparates zwischen Fotograf und fotografierter Welt ist verantwortlich für die auf allen Ebenen ambivalente Struktur des fotografischen Bildes. Dieses Bilderergebnis, das nach beiden Seiten - sowohl zum Subjekt als auch zum Objekt hin - offen ist, scheint mir interessanter und unserer Welt adäquater zu sein, als ein selbstreflexives, hermetisches und autonomes Gebilde.

S: Es gibt zwei Möglichkeiten der Verwendung von Sprache. Man kann mit Sprache über Sprache sprechen, und man kann mit Sprache über Welt sprechen. Die reine Selbstreferenzialität hat die Struktur einer Tautologie. Jede Tautologie wiederum beinhaltet ein Moment der Nichtidentität. Die Philosophie hat die Widersprüche, die sich etwa aus der Russelschen Antinomie ergeben, dadurch gelöst, daß sie eine Metaebene einführte. Was folgt jetzt daraus für das Bild? An welchen Punkt wird das Foto selbstreferenziell? Was muß passieren, damit der Betrachter das Foto auf das Foto und nicht auf das Fotografierte bezieht?

H: Ein fotografisches Bild ist hinsichtlich dessen, was sich daraus ablesen läßt, erstmal ein vollkommen offenes Gebilde. Je nach Interesse des Rezipienten wird ein und dasselbe Bild völlig verschieden gelesen. Nehmen wir zum Beispiel eine Luftaufnahme von Rußland. Der Ästhet wird darin vielleicht die Komposition, die Grau- und Schwarzwertverteilung sehen. Der Militär wird vielleicht darauf Abschußbasen verschiedenster Waffentypen sehen. Der Geologe wird die spezifische geologische Formation sehen, der Geograph vielleicht die Tundra oder Taiga. Je nach Wissenseinfall wird diese offene indexikalische Struktur anders gelesen werden. Wenn nun jemand dieses Bild nur unter bildimmanenten Gesichtspunkten, also ästhetisch, liest, so liest er es nicht auf der gleichen Ebene wie der Geologe oder der Geograph. Der Geograph liest das Bezeichnete am Foto, der Ästhet das Bezeichnende. Dies ist ein Sprung in den Kategorien der fotografischen Sprache. Auf deine Frage, wann man anfängt, statt auf das Bezeichnete auf das Bezeichnende zu schauen, läßt sich nur eine allgemeine Antwort geben. Diese Autonomisierung des fotografischen Bildes hängt mit der zunehmenden Ästhetisierung und Fiktionalisierung unserer Wirklichkeit zusammen. Die Wirklichkeit selbst wird nicht mehr so sehr unter funktionellen Gesichtspunkten, sondern unter ästhetischen Gesichtspunkten, denen des Designs, gelesen. Hier koppelt sich der antrainierte Blick der Medien, der Zeitung, des Fernsehen, deren Produkte entsemantisierte Bilder sind, in die Wirklichkeit zurück. Diese Bilder haben unseren Blick auf die Wirklichkeit von einem interessierten in einen interesselosen gewandelt. Aber nicht nur die Medien im engeren Sinne haben Teil an diesem gewandelten Blick. Der Blick auf eine Landschaft ist ein anderer, wenn ich sie als ein Teil von ihr durchwandere, als wenn ich sie mit dem Auto oder Zug durchfahre und sie durch das Fenster, welches ständig ein neues Bild konstituiert, zur Kulisse wird. Ich bin dann nicht mehr Teil der Landschaft, sondern die Landschaft ist Teil meiner Lebensinszenierung. In diesem geänderten Blick auf die uns umgebende Wirklichkeit steht das Ding nicht mehr in Differenz zum Ich, sondern Ding und Ich gehen ineinander über. Dies hat zu tun mit der Aufhebung des Ortes, der Möglichkeit, z. B. via Satellit an zwei Orten gleichzeitig zu sein, und der damit verbundenen Aufhebung der Zeit. Diese Rückkoppelung des medialen Abbildes an die Wirklichkeit verändert nicht nur unseren Blick auf diese, sondern auch die Wirklichkeit selbst. Es entstehen immer mehr Architekturen, die Übertragungs- oder Durchgangsräume sind. Ich habe dies in einem Vortrag einmal die Medialisierung der Architektur genannt. Die Gebäude werden immer mehr zu Schleusen, zu Schnittstellen der Wirklichkeit. Ich denke z. B. an Trafostationen, Telefonhäuschen, Übertragungsstudios, Abfertigungsstationen in Flughäfen - alles Derivate der Boxform der Fotokamera. Diese künstlichen Orte tragen dazu bei, unsere Wirklickeit unter ästhetischen Gesichtspunkten zu sehen.

S: Wobei zu fragen wäre, was ästhetisch heißt. Was geschieht, wenn dieser Gesichtspunkt sich totalisiert? Wenn Welt und Fiktion zusammenfallen, gibt es auch keine Fiktion mehr. Philosophen wie Baudrillard versuchen darzustellen, daß auch Macht in der allgemeinen "Agonie des Realen" verschwunden ist. Ich weiß nicht, es gibt auch heute noch handfeste Interessen und Machtverhältnisse, und sei es die Macht, über die Medien zu verfügen.

H: Solange sich noch eine Unterscheidung zwischen Realem und Fiktion machen läßt, wird es reale Macht geben. Wahrscheinlich ist ein Leo Kirch mächtiger als ein Helmut Kohl. Aber beide weben mit an einer Gesamtstrategie der Aufhebung des Politischen. Soziale, ökonomische und politische Interessenkonflikte verschwinden im medialen Raum.

S: … und bleiben doch mit Realitätspartikeln verwoben. Doch vielleicht sollten wir auf die Kamera zurückkommen. Du verstehst die Kamera häufig als Innenraum, als einen sich abschließenden Quader. Du hast immer wieder eine Parallele zwischen Kamera und Raum hergestellt. Wie siehst du dieses Verhältnis?

H: Das Verhältnis ist schon im Wort Kamera vorgegeben, es enthält das Wort Kammer. In meinen früheren Arbeiten interessierte mich, was mit einem Raum, mit einem Ort passiert, wenn man ihn in eine Kamera verwandelt. Mich faszinierte, daß dieser Ort eine andere Qualität bekam, daß er zum Zwischen-Ort, zur Passage, zum Durchgangsraum, zur Schleuse wurde. Jeder Apparat, auch die Kamera, ist zugleich ein Modell einer bestehenden Wirklichkeit und eine Maschine zur Herstellung einer kommenden Wirklichkeit. Er ist zugleich eine Ausstülpung unseres Selbst in die Welt hinein und eine Einstülpung der Welt in uns hinein. Jede seiner Qualitäten ist transitorisch. Diese transitorischen Qualitäten standen von Anfang an im Zentrum meiner Arbeit. Die Kamera als Gehäuse ist der Schlüssel zum Verständnis der Architektur der Moderne. Sie hat Parallelen zu der modernen Vorstellung vom Wohnen, z. B. in der Zellenartigkeit der Wohnungen, deren Transparenz nach außen mittels großer Scheiben (Panoramafenster) etc. Wohnung ist nicht mehr Refugium, sondern Wohnmaschine. Letztlich hat der Fotoapparat die räumliche Qualität des Raumes zerstört, indem er ihn neutralisierte und multifunktional machte. Diese Zerstörung des Raumes durch den Fotoapparat räumlich nachzubauen, ist ein zentrales Moment meiner letzten Arbeiten. Diese Zerstörung resultiert aus der Überführung einer Wirklichkeit des Raumes in die Wirklichkeit des Apparat-Raumes. Den Apparat-Raum kennzeichnet sein funktionaler Aspekt, nämlich der des Aufzeichnens. Die Kamera sieht nur mit einem statt mit zwei Augen. Das Ergebnis ist ein zweidimensionales Bild, in dem der Realraum zum Illusionsraum wird. Diese Überführung bzw. Zurichtung entspricht den vorher erwähnten Metaebenen, die man einführen muß, um den Raum, in dem man sich befindet, zu reflektieren.

S: Abstraktion und Metafunktion sind nicht unbedingt identisch, für konstruktivistische und funktionalistische Architektur stellt der Kubus eine Idealform dar. Hier handelt es sich offensichtlich um eine Abstraktion.

H: Die Architektur hat heute sehr wohl eine Metafunktion, nämlich als Modell ihrer selbst. Ein gutes Beispiel für die Verbindung von Fotoapparat und Architektur ist die Einführung des Moduls, des architektonischen Bausteins durch Le Corbusier. Zwischen dem Modul als Wirklichkeitsbaustein, dem fotografischen Korn als analoger Bildbaustein und dem Pixel als digitaler Bildbaustein besteht ein enger Zusammenhang. Ein Fotoapparat überführt die Wirklichkeit mittels einer Art Rasterung in ein Bild. Wenn ich nun diese fotografische Bauweise des Bildes für die Welt als solche übernehme, komme ich zwangsläufig zum Kubus, zum Modul, mit welchem ich in vertikaler und horizontaler Reihung dreidimensional "Welt bauen" kann. Hier schließt sich das Abbild von Welt mit der Welt selbst kurz.

S: Bereits die Renaissance konstruierte den perspektivischen Idealraum, den sie den konkreten Räumen überstülpte.

H: Dort gibt es nicht den polivalenten Blickpunkt.

S: Die Idee des Raumes als ein Kubus schließt letztlich auch Polivalenz aus.

H: In der Renaissance repräsentierte sich die Welt in einem statischen Bezugssystem von Standpunkt und Fluchtpunkt, in dem sich die ganze Welt entfaltete. Im 20. Jahrhundert gibt es nicht mehr den einen Standpunkt, sondern unendlich viele gleichwertige Standpunkte.

S: Zumindest während des Fotografierens zwingt der Fotoapparat einen idealen Standpunkt auf.

H: Selbst wenn dies so wäre, wäre dieser ideale Standpunkt ein nur vorübergehender, denn der Fotograf wechselt beim Fotografieren der Welt ja ständig die Position. Der Standpunkt bestimmt das Bildergebnis. Ein fotografisch gutes Bild ist Zeugnis des richtigen Standpunktes. In diesem Glauben an einen richtigen Standpunkt zur Welt, der ein Bild liefert, in dem sich das Wesen der Wirklichkeit offenbart, schwingt ja die Renaissance mit. Obwohl ich nicht an die "gute" Fotografie glaube, also jeder Standpunkt zur Welt für mich gleichwertig ist, faszinieren mich Fotografen, die daran glauben. Als ich vor Jahren einmal Dieter Rehm, der diesen Glauben an einen idealen Standpunkt hat, durch New York begleitete, ihn beim Fotografieren beobachtete und mich fragte, warum er etwas fotografiere, von dem es schon hundertausend Postkarten gab, beschloß ich, sein Bildergebnis als Dokument eben diesen fotografischen Glaubens von der Mattscheibe seiner Großbildkamera abzufotografieren. So entstand unser Projekt "Siegesopfer".

S: Den klassischen Fotografen interessieren keineswegs nur die objektiven Bedingungen der Ablichtung, sondern in der Motivwahl spielen durchaus subjektive Vorlieben herein. Der Bildausschnitt wird hier nicht nur durch objektive Gegebenheiten bestimmt, sondern auch durch subjektive Preferenzen. Und in dem Augenblick, wo der Fotograf so fotografiert, ist er gewissermaßen ein Expressionist.


H: An dieser Stelle ist der Begriff der Obsession wichtig. Es entsteht hier ein methodisches Paradoxon. Der Fotoapparat ist ein analytisches Instrument und verlangt einen analytischen Umgang, da ich mich sonst als Künstler über den Apparat vollständig der Natur ausliefere - viel mehr als in der Malerei oder Bildhauerei. Auf diesem Ausgeliefertsein an Natur durch Technik basiert jeder relevante Expressionismusbegriff; ich denke da an Metropolis von Fritz Lang oder Berlin Alexanderplatz von Alfred Döblin. Das Expressive in seiner populären Form lebt ja immer noch als Vorstellung vom Schöpferischen und damit als Verhaltensforderung an den Künstler im Kunstbetrieb weiter. Im Grunde genommen hast du den Typ des Künstlers beschrieben, den die professionelle Rezeption - Kritiker, Kuratoren und Kunstgeschichtler - sich wünscht und fordert. Denn an dieser Vorstellung von Kreativität konstituiert sich die professionelle Rezeption als Supervision des Künstlers. Den Kunstbetrieb interessiert allein die Verfaßtheit des Künstlers in Beziehung zu seinem Werk als gängiges Erklärungsmuster. Hier kommt der Begriff Gerücht bzw. Gesellschaftsklatsch ins Spiel.

S: Es gibt eine Reihe von Arbeiten, in denen du dich mit Kamera, Raum und den institutionalisierten Bedingungen von Kunst befaßt. Stichwort: "white cube". Dieses Gehäuse ist letztlich ein Resultat des Autonomiebegriffs der Kunst der Moderne. Kunst schottet sich in einem cleanen, von allen außerkünstlerischen Interessen befreiten Raum nach außen ab. In deiner Installation "Das Versprechen" reflektierst du das Verhältnis von "white cube" und politischem Interesse. Qua Fotografie siedelst du in einem Galerieraum eine asylsuchende Familie an. Der "white cube" gebärdet sich unpolitisch. Gibt es im Hintergrund nicht doch eine Politik des "white cube"?

H: Es gibt einen Zusammenhang zwischen dem "white cube" des Ausstellungsraumes und der "black box" der Kamera. Dieser Zusammenhang läßt sich sehr einfach über den Mythos von Rationalität konstruieren. Hieran koppelt sich auch die Innenraumauffassung der Moderne, von der wir vorhin sprachen. Wie sich das Politische in dieser Beziehung situiert, ist allerdings komplizierter. Die Beziehung zwischen Kamera und Politik wiederum ist evident, wenn man an die Tradition des politisch engagierten Bildjournalismus denkt. Die Kamera gilt ja gemeinhin als objektives Aufzeichnungsinstrument von Wirklichkeit. Als solches ist sie fähig, Beweise von Folter, Unterdrückung, Not, Krieg, Vertreibung und anderen politischen Mißständen zu liefern. Dies trug dazu bei, die Fotografie als ein Instrument der Aufklärung und des politischen Engagements zu sehen. Obwohl ich weiß, welchen Anteil der Fotojournalismus z. B. am Erfolg der Anti-Vietnam Bewegung hatte, würde ich heute sagen, daß die Fotografie nicht über die Mißstände der Welt aufklärt, sondern vielmehr dazu beiträgt, daß wir mit diesen Mißständen recht angenehm weiterleben können. Die Fotografie als Ausschnitt von Wirklichkeit bereitet uns die Wirklichkeit zu und macht sie so für uns in gewisser Weise verdaubar. Der Blick des Nichtberührtseins von der Welt, der sich durch die Linse des Fotoapparates konstituiert, wird durch die Fotografie an uns weitergereicht. Auch tritt die Fotografie an die Stelle der Wirklichkeit. Daher wird dieser unbeteiligte Blick als genormtes Verhalten zu unserem Blick, mit dem wir täglich Bilder grausamster Begebenheiten betrachten. Wir reagieren empört. Aber unsere Empörung ist ebenso rituell wie die scheinbare Aufklärung durch die Medien. In dem Werk "Das Versprechen" versuchte ich, die Scheinheiligkeit von politischem Engagement innerhalb der Kunst unter dem Emblem "PC" zu entlarven. Ich brachte die Galerie, den neutralisierten "white cube" als fiktionale Raumsetzung, die Welt ausblendet, mit der harmlos-netten Zeitungsfotografie einer Asylbewerberfamilie, auf der die Not, die Verfolgung, die Demütigung ja notwendigerweise nicht sichtbar gemacht werden können, zusammen. Damit wollte ich zeigen, daß Fotografie und Galerie sich unter den gleichen Bedingungen konstituieren, nämlich unter den Bedingungen der Wirklichkeitsästhetisierung und der Wirklichkeitsverharmlosung. Wäre es der Kunstszene ernst mit ihrem politischen Engagement, müßte sie eigentlich ihren eigenen Forderungen gemäß die Galerien schließen und sie Asylbewerbern als Unterkunft zur Verfügung stellen. Da aber der alleinige Zweck von Galerien die Erbringung von Geld ist, bleibt jede Empörung rituell, genau wie die scheinbare Aufklärung in den Zeitungen.

S: So betrachtet trittst du natürlich in einen Teufelskreis: Der Aufklärer, der über die Aufklärer aufklärt, aber genau denselben Bedingungen unterworfen ist, wie auch diejenigen, die meinen, sie könnten in die Asyldebatte mit Hilfe der Kunst eingreifen.

H: Das ist die Dynamik der Signifikanten, von der wir die ganze Zeit reden. Jeder Versuch, den blinden Fleck des jeweiligen Ortes zum Gegenstand künstlerischer Arbeit zu machen und damit aufzuheben, produziert ja notwendigerweise einen neuen blinden Fleck. Da mein Arbeiten ein ständiges Fortschreiten ist, kann ich den letztproduzierten blinden Fleck in die jeweils neueste Arbeit mit einbeziehen. Aus diesem Grund halte ich meine Produktion so offen und flexibel wie möglich. Ich hoffe, daß sich durch meine Arbeiten, so disparat sie auch erscheinen mögen, eine Kette oder Spur im Sinne eines Derrida herausbildet. Einen Blick von Außen, der alle blinden Flecke sieht, ohne selbst einen zu produzieren, gibt es nicht, nur ein Durchdringen der Immanenz, in deren geschichtlichen Vollzug sich das "Andere" als Spur verbirgt.