Berliner Tagespiegel 02.05.1995

 

Shakespeare aus der Kiste
Heiner Müller "Hamletmaschine" als Multi-Media-Spektakel im Podewil

 

von Christoph Funke

 

Verteilt auf 47 quadratische Kisten: "Hamlet" von Shakespeare, "Maschine von Müller. Die Kisten tragen Texte in englisch und deutsch und Begriffe: Mortality, Event, Grave, Vagina, Phallus, Past, Mediated und so weiter. Mit den Kisten wird gearbeitet. Zwei Spielerinnen machen sich über das Durcheinander her, bauen es um, schleppen Holzgehäuse hierin und dahin. Dabei sprechen sie Müller-Texte, stoßen Laute aus, ändern Tempo und Rhythmus ihrer Arbeit. Einmal entsteht ein Turm, der die Texte des "Scherzo" aus Müllers "Hamletmaschine" von oben nach unten lesbar macht. Und schon wird der Turm wieder eingeebnet zu einer begehbaren Parterrelandschaft auf der sich drei Sängerinnen tummeln, während die Spielerinnen staunend erstarrt sind. Dann bauen die wieder Unermüdlichen eine Mauer, die Zuschauer sitzen vor ihrem eigenen Video-Abbild. Hinten drei Leinwände, dazu Musik auf langgezogenen sich überlagernden Tönen beruhend, klagender Sprechgesang (in englisch) ariose Entladungen. Müller und Shakespeare, Shakespeare und Müller als Gesamtkunstwerk – im Scherzo-Teil umkreisen die Spielerinnen den Text-Turm, projizieren die hinten stehenden, nicht sichtbaren englischen Texte mittels Kamera auf die Video-Wände. Das Rezeptionsprodukt vorn: deutlich, graphisch solide, die Originalvorlage hinten: schemenhaft, artifiziell, verwischt....

 

Gewollt ist ohne Umschweif das völlig Außerordentliche. Bleibt die Kunst "bloßes Versprechen und entbirgt nicht als notwendiger Schein jene Wahrheit ihrer eigenen Hergestelltheit, so verkommt sie zu großer Propaganda – und fungiert somit nur als aufgesetzter Pomp und Kitsch". Das soll natürlich im Podewil nicht unterlaufen, auch wenn, noch ein Zitat aus dem Programmheft, festgestellt werden muß: "Jedes Motiv korrumpiert letztlich jede noch so radikale Setzung, da diese immer den Geruch des Privaten in sich trägt."

 

Also, um es eine Wenigkeit schlichter zu versuchen: Die Kistenarbeit erfolgt, um einen Projektionsraum zu schaffen in dem Müllers Text, Shakespeares Vorlage und die gedanklich-philosophischen Mitarbeit des Zuschauers gleichsam in einem Kraftfeld vereinigt werden. Aber das gelingt nicht.Müller schrieb "Hamletmaschine" 1977. Im gleichen Jahr entstand auch der Text "Verabschiedung des Lehrstücks" mit diesem Satz: "Was bleibt: einsame Texte, die auf Geschichte warten." Der einsame Hamlet-Text ist von der Geschichte eingeholt worden. Seine Voraussicht hat sich, zumindest punktuelle, niedergeschlagen im historischen Ablauf und sie behält noch Zeit zum Warten: auf die Fleischermesser, die durch die Schlafzimmer gehen. Gerade die zwischen Textniederschrift und Beute vergangene Zeit wäre ein Ansatzpunkt für die Versinnlichung gewesen. Statt dessen geht der Versuch den komplexen Text Müllers von Krieg, Revolution, Terror, Geschlechterhaß und Generationenkonflikt hochzuladen seltsam ins Leere. Im sorgfältig angelegten Dschungel der Bedeutungen und Überlagerungen wird er zu Tode gedeutet. Eine höchst angestrengte Kunstaktion findet statt, diszipliniert und berechnet ­ Müller und Shakespeare allerdings verschwinden mehr und mehr erdrückt von den Lasten der heftig ineinander verkrallten Interpretationsebenen.

 

Tobias Veit (Regie), Michael Hofstetter (Installation), André Werner (Komposition) sind für das Multi-Media-Spektakel der Hochschule für Schauspielkunst "Ernst Busch" und des Podewil verantwortlich. Mit bemerkenswertem Einsatz widmen sich die Schauspielerinnen Ulrike Hübschmann und Antje Lindemann sowie die Sängerinnen Carolin Masur, Saskia Meusel und Eiko Morikawa dem ehrgeizigen Unternehmen

 

Alle Zuschauer hielten das auf exakt eine und Stunde und 37 Minuten terminierte Spektakel nicht durch, der Rest spendete freundlichen Beifall.