Eine Künstler-Didaktik der Jetztzeit
Michael Hofstetter
VOL3 / 2011-2019
Texte von Dorothee Bauerle-Willert, Karin Hutflötz, Shiva Lachen,
Karl Borromäus Murr.
Freiburg: modoverlag 2019
296 Seiten, deutsch, englisch, zahlreiche Abbildungen
ISBN 978-3-86833-264-3, € 34,-
,,Kunstunterricht richtig verstanden, ist heute nicht mehr das weiche kulturelle Anhängsel einer Wohlstandsbildung, sondern die einzige Weise mit und in der Bilderflut zurechtzukommen und darin sich zu orientieren." So ließ Michael Hofstetter den Doppelkongress „Kunst. Geschichte. Unterricht" in München eröffnen.
Hofstetters erste Publikation einer antichronologischen, mehrbändigen Werkmonografie ist der aktuellste Teil in seinem künstlerischen Schaffen. Das Werk ist mit seinen zahlreichen ganzseitigen Abbildungen ein Bilderbuch mit vielen Allegorien. So ist es eindeutig als Manifest zu lesen, das auch der Kunstpädagogik wesentliche Impulse gibt.
Im Zeitalter von Selfie und Fake News übernimmt Kunstunterricht gleichzeitig Teile der Sozialkunde, politischen Aufklärung, Geschichte - und vor allem der Persönlichkeitsbildung. Hofstetter spielt in seinen zahlreich abgebildeten Werken mit den Zeichen, er interveniert in den Stadtraum, er lanciert doppelbödige Andeutungen und bricht mit dem gerade gefundenen Kurzschluss.
Ein Essay von Shiva Lachen verweist auf eine solche Gratwanderung Hofstetters im Museum für Modeme Kunst in Odessa und spannt einen Bogen von 200 Jahren. Hofstetters Werk zeigt ihn dabei als intervenierenden Künstler im Spannungsfeld zwischen Entfremdung und Sinn, zwischen der Möglichkeit unter lauter Unmöglichkeiten, zwischen Lösung und Löschung. Hofstetters Intervention in Odessa spielt mit der mimetischen Vormoderne, der autonomen Modeme und er treibt sie in einen postmodernen Spalt, wo zeichentheoretische wie auch gesellschaftspolitische Fragen aufeinandertreffen. Die von Malewitsch entliehenen kyrillischen Sätze aus dessen Brief an den Kunsthistoriker Alexander Benois baut Hofstetter aus gefärbtem Sand auf dem Gartenweg des Museums nach. Das Material ist der Zeit ausgesetzt: In diesem Fall wurde die Arbeit innerhalb von drei Stunden vom Eröffnungspublikum der IV. Biennale von Odessa zerstört. Das Versprechen der Zeichen scheitert am Material und die Revolution stirbt am Fetisch. Kunst ist immer ein „Als-ob" und Hofstetter ermöglicht mit seiner ins Offene fragenden Haltung Erfahrungsräume, die immer auch Teil von gutem Kunstunterricht sind.
Für ihn steht das Material an erster Stelle. Mit genauer Hingabe setzt er dem Ewigkeitsversprechen der „frei flottierenden Zeichen" ein Ende, denn sie münden in der Bodenlosigkeit von Bedeutung und erzeugen nur flottierende Subjekte und fragile Gesellschaften.
Solch ein Ende von Grundlosigkeit bedeutet einen Anfang in der Kunst. Dies offenbart sich auch mit diesem luziden Buch. Es entwickelt eine eigene Zündschnur. Hofstetter sprengt dort, wo das geschichtliche Bild von der herrschenden Klasse die historisierende Gegenwart durchdringt und lieblos aus zusammenhängen gerissen, dem Zweck symbolischer Machtkonstitutionen dient, in die Luft und baut wie eine Trümmerfrau aus dem Staub eine Herberge.
Laut Hofstetter ist Geschichte „Anschauungs- und Unterrichtsmaterial für eine revolutionäre Umgestaltung von Zukunft. Kunst und Kunstunterricht sieht er als Werkstatt eines Möglichkeitsfeldes zugunsten von Zukunft. So findet man im Buch weitere ortsspezifische Interventionen, z.B. Verspielen, die im Essay von Dorothee Bauerle-Willert und Shiva Lach'en zu Wort kommen. Karin Hutflötz schreibt über das Werk Upcycling, das im Katalog in drei Varianten präsentiert wird. Karl Borromäus Murr schreibt zu den Webfalten, die zuerst im Museum zu sehen waren und sich dann zu tragbarer Straßenmode transformierten. Die Essays stiften die Klammer für das Werk Hofstetters, der die Zeit verlebendigt und aus Räumen Orte mit einem besonderen Klima schafft. Genau darin öffnet sich ein weiteres Mal das Potenzial des Buches als realer Impuls für einen guten Kunstunterricht: mit seinem ästhetischen, sinnlichen und geistigen Gehalt zum Nachdenken und Tun - über Geschichte und Gegenwart, über Linien und Brüche.
Maya Hermens
KUNST+UNTERRICHT 441/442 | 2020 Seite 77