Clemens Grünberg: Provokationen

 

Michael Hofstetter
Die Kunst muss die Zukunft auch riskieren!
Über die fortwährende Ankündigung disruptiver Kunst

München: kopaed 2022
90 Seiten, Farbabbildungen ISBN 978-3-968-48-055-8

 

Die Moderne ist gescheitert. Aber dieses Scheitern wurde nie vollzogen, sie ist 100 Jahre nach ihrer Blüte immer noch der Bezugshorizont unserer Kultur und der Kunst. Die revolutionäre Innovationsmaschine der Moderne ist mit dem Postulat „Do it first“ und der Vorstellung von Autonomie zum Sinnbild für Erfolg im kapitalistischen Gesellschaftssystem geworden. Diese radikale Aufforderung zur Avantgarde als permanente Herstellung von absoluter Gegenwart kann nur Mystikern und Künstlern gelingen. Dennoch wird das Revolutionäre der Moderne gern in jeder Produktwerbung verwendet und findet auch als „Disruption“ Anklang in der Philosophie, der Wirtschafts und Lebensberatung.Diese Kritik an der Überforderung der Moderne schwebt seit mehr als 30 Jahren im Raum der Kunst und wird an unterschiedlichen Stellen immer wieder mal geäußert – fast immer mit dem Nachsatz „Wir müssen wieder revolutionär werden und ins Offene navigieren“.


Michael Hofstetter arbeitet auf anschauliche Weise heraus, warum die anscheinend revolutionäre Ankündigung Teil einer Strategie des Bewahrens und der Restauration ist. Erfolgreich sei heute, wer seine Kunst in historisierender Manier herstellt und sie als revolutionär verkauft. Diesem verwobenen Transfer von wirklicher in verkündete Revolution, von radikaler Gegenwart in Historismus und von bildnerischem Werk zu „Image“ geht Hofstetter in seinem Essay nach. Hierbei mischt er fundiertes geschichtliches Wissen mit Polemik – und Anekdotischem aus dem Kunstbetrieb. Anschaulich stellt der Text den messianischen und utopischen Kern der Moderne vor, um danach ihre Überschreibung durch die Fotografie, ihren Missbrauch durch den Historismus und ihre Verwertung durch den Kapitalismus zu zeigen. Am Beispiel Beuys zeigt der Autor, wie der Kapitalismus, der Historismus und die Fotografie in ihrem Zusammenspiel jede gegenwärtige und sich transformierende Kunst zerstören und dafür überall aufstellbare und gut verkaufbare Produkte in mythologischem Gewand erschaffen. Hofstetter macht nicht nur klar, warum er die Fotografie zu seinem Medium gemacht hat, sondern auch, warum die junge Kunst nicht mehr scheitern kann, wenn gegenwärtige Kunstwerke willig nach den Rezepten der Kunstkritik und ihren Diskursen erstellt werden. Dabei ist die Moderne zum Baukasten einer kanonischen Erzählung geworden und gleichzeitig zum revolutionären Label in historisierender Praxis.

Wirkliche Kunstwerke, die sich nicht nur mit einer revolutionären Pose schmücken, müssen – so sein Fazit – die nicht zu vermeidende Überschreibung, Missbrauch und Verwertung als Teil ihrer selbst aufweisen. Sie müssen ihren eigenen Verlust der Selbstbestimmung in der nachfolgenden Rezeption selbst vorwegnehmen, um wirkliche Autonomie zu bekommen. Hofstetters Kunst untermauert diese Sicht selbstbewusst mit eigenen Werken. Eine kritische Bewertung durch die Leserschaft steht an. Vielleicht kann er seinen Rezipientinnen und Rezipienten mit den Abbildungen im Buch verdeutlichen, dass seine komplexen Kunstwerke in ihrer Überdeterminierung kein Spleen und keine nur eigensinnige Handschrift sind, sondern die schlichte Notwendigkeit, die Indienstnahmen von Kunst für deren Verwertungszwecke zu entlarven. Seine Kunst fängt – wie Beuys – am Ende an. Während Letzterer noch die Medien als Schlitten für seine Botschaft benutzte, gilt für den reflektierten Künstlerprotagonisten, dass die Medien das Problem schlechthin sind. Sie wandeln unverfügbare Gegenwart in verfügbare Vergangenheit. Dieses Begehren nach Verfügbarkeit ist der Ausgangspunkt seiner Kunst, die durch die Fotografie zurück zu einem Moment von kurzer Unverfügbarkeit kriecht. Es sind die provokativen Thesen mit ihren Werkbeispielen, die die Schrift den anspruchsvollen Kunstlehrenden empfehlen.

 

Kunst+Unterricht Friedrich Verlag
Heft: 461/462_2022 S.77,78