Alle Züge offen
Michael Hofstetter zu Rudolf Herz’ „Zugzwang“
2011

An einem schönen, herbstlichen Samstagnachmittag saß ich mit einer guten Freundin und Kunsthistorikerin im Biergarten am Chinesischen Turm und wir kamen auf Rudolf Herz’ „Zugzwang“ zu sprechen. „Das ist doch eine langweilige Arbeit“, meinte die eloquente und belesene Freundin. „Hitler und Duchamp im Rapport nebeneinandertapezieren, was ist da schon dran? Und was hat Hitler mit Duchamp zu tun? Der eine war ein vulgärer Widerling, der andere ein Geistesmensch. Die haben ja nicht einmal dieselbe Sprache gesprochen. Ich glaube, der Herz wollte nur provozieren, meinen Sie nicht auch? Vielleicht ist es ja eine gute Provokation. Mich jedenfalls regt sie nicht auf.“

Die im Rapport geklebten Schwarz-Weiß-Fotografien sind in der Tat keine Blicksensation und keine Augenweide. Hier kann keine ikonografische Bildung mit connaisseurhafter Lust auf Entdeckungsreise gehen. Hier ist weder raffinierte Bildfindung zu sehen noch mythische Epiphanie. Warum sollte ich auch danach suchen? Ich gehe auch nicht zum Bäcker und verlange nach einem Stück Schweinefleisch. Mir wurde wieder einmal klar, wie stumpf und nichtssagend die ganze kunstgeschichtliche Herangehensweise ist. Verbraucht durch den Blick, den sie selbst etabliert hat. Erschöpft in der Methode und den Regeln des eigenen Systems. Dabei ist es gerade die leere Oberfläche der Fotografie, von wo aus sich das Werk entfalten könnte.

Das Gesicht von Hitler kennt jeder, während das Antlitz von Duchamp nur ganz wenigen Liebhabern bekannt ist. Duchamp ist der Welt nur durch sein Pissoir bekannt. Diese freudsche Verschiebung wäre allein schon einen ganzen Aufsatz wert. Aber lassen Sie uns zurückkommen zu den beiden Fotoporträts: Das Wissen, das wir anhand der beiden Fotografien haben, ist kein Wissen des Bildes, sondern das Wissen unserer Rezeption. Die Fotografie selbst ist ein leerer Signifikant. Tautologische Verdoppelung. Ein Zeichen, das nur durch unsere Codierung Sinn erhält. Da dieser Sinn von jedem Betrachter selbst hergestellt werden muss, aber dennoch kein privater ist, sondern sich parasitär am gesellschaftlichen Phantasma nährt, trägt jede Fotografie die Möglichkeit von Pop in sich. Eine Symbolisierung des Imaginären als das Einverständnis der Masse.

Meine Freundin hatte wirklich recht. Wir können bei den Fotografien nicht mehr sagen als: „Schau hier, das ist Hitler! Schau hier, das ist Duchamp!“ Aber genau diese Schließung von Bild, Welt und Blick interessiert mich an der Fotografie. Besonders wenn es sich bei dem Abgebildeten um eine Popikone handelt. Die Popularität des Abgebildeten kollidiert mit der Informationsleere des Mediums. Hier ereignen sich gleichzeitig eine Schließung und eine Öffnung. Gesättigte Fülle und Leere. Am Grad der höchsten Aufladung entleert sich jede Fotografie und gibt ihre verborgene Geschichte preis. An ihrem Wachsein entzündet sich dialektisch ihr Traum. Bei Hitler ist es ein Albtraum eines ganzen Volkes. Dies leistet schon jedes Hitlerbild für sich allein. Da wir aber immer verklebt sind mit unserem identifizierenden Blick, brauchen wir einen Öffner. Etwas, das unsere Blickerfüllung durchbricht. Barthes hat es Punktum genannt. Im Fall von „Zugzwang“ ist es das beigestellte, uns unbekannte Duchamp-Foto. Es bildet das Punktum des Hitlerporträts. Es hilft uns, aus der Blindheit des Überwältigtseins bei Hitler auszusteigen. Es öffnet den Hitler, den wir kennen, und legt eine Spur zu einem Hitler, der als Mischung von Gernegroß und Kleinbürgerrebell Ende der Zwanziger das Fotoatelier von Heinrich Hoffmann betrat, um sich als Staatsmann zu entwerfen. Aber nicht nur Duchamp decodiert Hitler, sondern auch Hitler zeigt bei Duchamp eine mögliche Schließung im Zeichen des Pop an. Im Zeichen einer Popularität, die, dort wo sie eingetroffen ist, auf seltsame Weise nicht über die narzisstische Aufladung Duchamps durch sein Porträt erfolgte. Die beiden Fotografien zeigen uns zwei Möglichkeiten. Ihre synchrone Anordnung setzt eine diachrone Bewegung in Gang, die zu keinem Ende findet.

Kann man Hitler mit Duchamp kombinieren, ohne zynisch oder gar obszön zu erscheinen? Gewiss, man kann jedes Foto mit jedem kombinieren, weil jedes Zeichen anschlussfähig ist an alle anderen Zeichen. Aber eine solche allegorische Aufladung verweist nicht nur nach vorne in ein Rätsel, sondern auch zurück auf den Kombinator. Jeder Kombinator offenbart sich hier als Gott der Gnostik, als ein Gott, der nicht den vollen Überblick hat. Denn es gibt keine naturhafte Ordnung in der fragmentierten Welt der Zeichentrümmer. Jede hier hergestellte Ordnung bleibt immer unterhalb der Idee einer vollkommenen Schöpfung. Hier entsteht Kitsch, Pornografie, Obszönität, Ware, Propaganda und Mode.

Herz spielt mit zwei Fotografien und zeigt die Unmöglichkeit und die Möglichkeit der europäischen Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Er tritt dabei aber nicht als Exeget oder Forscher oder Missionar auf, sondern bleibt Spieler. Er realisiert eine Möglichkeit im historischen Feld des Fotoateliers Heinrich Hoffmann. Dass die Kombination von Hitler und Duchamp im Bildarchiv des Hitlerfotografen schon latent vorhanden war, macht diese Arbeit so schön. Denn Fotografie ist nichts anderes als die Realisation einer Latenz.

Im Fotoatelier von Heinrich Hoffmann kreuzten sich die Wege von Duchamp und Hitler. Sie kamen aus unterschiedlichen Gründen in sein Studio und baten um ein Porträtfoto ihrer Person. Duchamp brauchte ein Porträt für seinen ersten Auftritt in der Welt. Guillaume Apollinaire hatte ihn eingeladen, an einer Ausstellung in Paris teilzunehmen. Hitler brauchte ein Bild, das seine staatsmännischen Ambitionen unterstreicht. Hoffmann gab sich jedes Mal dieselbe Mühe, dem Bild der Kundschaft zu entsprechen. Er hat die beiden Männer arrangiert, ausgeleuchtet und fotografiert. Sie zahlten dafür. Bild gegen Geld. Zwei Geschäftsvorgänge wie viele andere in einer Welt, wo Zeichen mit Zeichen bezahlt werden.

Die beiden Männer betreten dafür die Raumkapsel seines Fotostudios. Setzen sich auf den Stuhl, auf dem Hunderte vor ihnen und nach ihnen gesessen haben. Der Fotograf versteckt sich hinter der Kamera und sagt: „Jetzt!“ Die Verschlusszeit ist Auslöschung und Neugeburt. Übrig bleiben zwei objektive Bilder. Und dennoch bildet der Fotograf als abwesender Umschlagsort die Realität, in der die beiden Bilder verankert sind. Spätestens seit Michel Foucaults Aufsatz „Die Hoffräulein“ wissen wir, dass die Erscheinung des Bildes an eine dunkle Matrix gebunden ist, wo Autor, Modell und Rezipient ineinanderverschwimmen und in dieser Übergänglichkeit eine Zone schaffen, einen Grund bereiten, der zum Abgrund wird. Das Sichtbare wird eine Bedingung des Unsichtbaren und umgekehrt. Der dunkle Fotohintergrund, der das Foto in einen atopischen Raum, ins Überall und Nirgendwo schießt, korreliert mit einer ahistorischen Zeitlosigkeit. Die Inszeniertheit dieser Bezuglosigkeit schafft dialektisch die Bezüge. Die beiden Fotografien sind ganz konkret auf den Fotografen Heinrich Hoffmann bezogen, gerade deshalb, weil alle Spuren dahin getilgt wurden. Und diese Spuren überführen das Atopische der Fotografie in den konkreten Raum des Fotostudios von Heinrich Hoffmann am Odeonsplatz in München und das Ahistorische in den konkreten zeitgeschichtlichen Bezug dieses Studios und seines Besitzers. Die Auslöschung des Hier und Jetzt in der Fotografie ist gerade die gesellschaftlich-politische Dimension. Alle von Heinrich Hoffmann Porträtierten bilden ein soziologisches Feld, in dem sich das Unsichtbare der sichtbaren Geschichtsschreibung ereignet. Teil dieser Geschichte ist der Zu-Fall, dass Hitler und Duchamp denselben Fotografen aufsuchten. Die beiden Fotografien kommen aus diesem Feld. Deshalb ist diese Kombination zulässig und nicht geschmacklos. „Zugzwang“ ist die Decodierung eines symbolischen Feldes anhand zweier realisierter Fotografien. Das real Monströse von Hitler liegt in diesem Feld ebenso begraben wie das potentiell Monströse von Duchamp. Weil hier der Ursprung von Monstrosität überhaupt liegt.

Der Schlüssel für die Arbeit „Zugzwang“ liegt nicht in den abgebildeten Personen, sondern im nichtsichtbaren Kontext der Fotografien. Ja liegt in der Konstruktion der Kontextlosigkeit selbst. Diese Konstruktion ist Teil eines gesellschaftlichen Phantasmas, das in der Fotografie eine unsichtbare Sichtbarkeit erlangt hat, aber hierbei nur ein Symptom unter vielen ist. So wie das Ready-made Symptom verkapselter Räume und dekontextuierter Zeichen ist. Was die Philosophie so liebevoll mit „frei flottierenden Zeichen“ bezeichnet hat, entfaltet sich hier mit seiner ganzen Macht und Gewalt und lässt uns hilflos-hysterisch allein in unserem Bemühen, Pflöcke der Gewissheit einzuschlagen. Die Löcher, die das Antlitz Duchamps in die Fototapete von Hitler reißt, sind der Ort der Unbegreiflichkeit der Geschichte selbst. Hier lösen sich alle unsere festen Vorstellungen von Substanz, Identität, Gesinnung, Moral und Wahrheit auf. Ich beginne mich zu verlieren in den (T)Räumen und Passagen von Walter Benjamin, während meine Augen auf die graue Fläche starren zwischen den beiden Köpfen der von meinem Blick ausgelaugten Protagonisten Hitler und Duchamp. Dieses ausfransende nebulöse Etwas durchbricht vertikal ein dünnes technisches Weiß; es suggeriert einen Anschluss zwischen den beiden Bildern, der sich dann doch nicht einstellt. Irgendwann hüpfen meine Gedanken dann wieder zu Hoffmann, und plötzlich scheint hinter ihm Herz auf. Sind also Hitler und Duchamp nur Vorwand für zwei andere Männer, die sich hinter den beiden verstecken? Die Arbeit „Zugzwang“ hört nicht auf, spannend zu bleiben.