Michael Hofstetter
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Der Grauwert Nr. 19 von Olaf Probst
in der FOE 156, München
2002
Eine kleine Geschichte der Monochromie
Wohl keine Bildform der Moderne wurde so kontrovers und so vehement diskutiert wie die Monochromie. Die Grenze zwischen Gegner und Befürworter verlief auf der Ebene der Ideologien zwischen Kommunismus und Kapitalismus, auf der Ebene der Erfahrung zwischen Künstler und Betrachter. Das monochrome Kunstwerk war in den westlichen Ländern Ausweis von Fortschritt und vollkommener Autonomie, für die kommunistischen Theoretiker dagegen Beispiel eines bürgerlichen Formalismus, dessen Hervorbringungen allein über ihren Warencharakter etwas aussagten. Auf der Ebene der Anschauung waren die Befürworter eine sich als Avantgarde verstehende Elite von Künstlern, Kritikern und Sammlern. Für die Mehrzahl der Durchschnittsbetrachter galten Abstraktion und Monochromie als erster Beleg der These, daß der Künstler sein Publikum nur verarsche. Beliebtes Beispiel waren die blau-monochromen Bilder des französischen Künstlers Ives Klein. Klein war es auch, der für seine monochromen Bilder eine metaphysische Dimension reklamierte und aus ihrer Betrachtung religiöse Erfahrungen ableitete. Unter produktionsästhetischen Gesichtspunkten ist die Monochromie ein Endpunkt der Abstraktionsbewegung in der Malerei, die im 19. Jahrhundert mit Cézanne anfing und ihren Höhepunkt im schwarzen Quadrat von Malevitsch fand. Es war der Versuch, alles Illusionistische, Darstellende und Außerbildliche aus dem Bild zu eliminieren und zu einer reinen absoluten Form zu gelangen.
"[…] das absolute Kunstwerk trifft sich mit der absoluten Ware. Der Rest des Abstrakten im Begriff der Moderne ist sein Tribut an diese. Wird unterm Monopolkapitalismus weithin der Tauschwert, nicht mehr der Gebrauchswert genossen, so wird dem modernen Kunstwerk seine Abstraktheit, die irritierende Unbestimmtheit dessen, was sein soll und wozu, Chiffre dessen, was es ist. Solche Abstraktheit hat nichts gemein mit dem formalen Charakter älterer, etwa den Kantischen ästhetischen Normen. Vielmehr ist sie provokativ, Herausforderung der Illusion, es wäre noch Leben, zugleich Mittel jener ästhetischen Distanzierung, die von der traditionellen Phantasie nicht mehr geleistet wird. Von Anbeginn war ästhetische Abstraktion, bei Baudelaire noch rudimentär und allegorisch als Reaktion auf die abstrakt gewordene Welt, eher ein Bilderverbot."
Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt am Main, 1973, S. 39-40.
Die Identität zwischen Erscheinung und Oberfläche, zwischen Geste und Repräsentation verlieh der Monochromie als "ontologische Einheit und Totalität" ihren quasi religiösen Charakter. Für den Rezipienten dagegen waren ihre Undurchschaubarkeit und Reizarmut, ihre vollständige Hermetik ein Affront.
"Der immanente Widerspruch der abstrakten Malerei wurde von den erwähnten Künstlern [Lucio Fontana, Ellsworth Kelly, Robert Rauschenberg, d. V.] um 1950 noch nicht im Gemälde, als Problem der Malerei selbst ausgetragen, sondern als phänomenaler und vorgefundener Widerspruch in der Wahrnehmung eines Gemäldes verstanden und bearbeitet: als immanente Doppelung des Gemäldes, als potentielle Gleichzeitigkeit zweier in der Wahrnehmung nicht miteinander vereinbarer Wahrnehmungsweisen, als oszillierende Gleichberechtigung der Wahrnehmung der – extrem reduzierten – Idealität der Bildfläche ebenso wie der Realität des Gemäldes als Oberfläche und als Gegenstand in einer Situation (bzw. als Tafel an der Wand). In der heroischen Abstraktion war die Wahrnehmung des Gegenstandes ›Gemälde‹ grundsätzlich ausgeschlossen worden, da sie als der materielle, geist- und bewußtlose Pol des konstituierenden Grundgegensatzes abstrakter Malerei die Idealität des Bildordnung und der Bildräumlichkeit bedrohte – sie ›entlarvte‹ das abstrakte Gemälde als dekorative oder ornamentale Funktion realer Oberflächen, als bloß anhängendes und schmückendes, nicht selbständiges Beiwerk, und mußte durch eine hierarchische Schichtung der Wahrnehmungsordnungen unterdrückt oder verleugnet werden."
Johannes Meinhardt, Ende der Malerei und Malerei nach dem Ende der Malerei, Ostfildern-Ruit, 1997, S. 112.
Doch spätestens mit Bauhaus, wo monochrome Farbflächen zum stilbildenden Chic von Innenarchitektur avancierten, mutierte das monochrome Bild an der Wand zum Element innerhalb einer formalen Ordnung von Flächen und Linien. Die Idealität der Bildfläche verwandelte sich innerhalb einer veränderten, nun kontextuellen Wahrnehmung zum Gegenstand, zur Oberfläche, zur Farbtafel an der Wand, die diese ausschneidet und proportioniert. Um die ursprüngliche Radikalität der Monochromie zurückzugewinnen, löschte sich das Bild als Bild an der weißen Wand entweder durch sein monochromes Weiß selbst aus (z. B. bei Robert Rauschenberg und Robert Ryman) oder die Wand wurde selbst zum Bild (wie Yves Kleins monochrom weißer "Raum der Leere" von 1961). Diese beiden künstlerischen Strategien reflektieren den Widerspruch zwischen einer immanenten und einer expliziten Wahrnehmung von Bildern. Beide "Lösungen" dieses Widerspruchs verlagern das Problem aber nur in eine höhere Wahrnehmungsordnung. Die Grenze des Kunstwerkes, die Kante des Bildes oder die Kante der Wand, bleibt letztlich der Umschlagsort verschiedener Wahrnehmungsordnungen.
Die Grauwerte von Probst
Auf dem Hintergrund dieser Problematik sind die Grauwerte von Olaf Probst zu sehen. Es ist der Versuch, die oben beschriebene Idealität der Monochromie vor einer kontextuierenden Wahrnehmung zu retten – der Versuch, das sukzessive Umschlagen von Innenwahrnehmung in Außenwahrnehmung zu brechen und an dessen Stelle einen Umschlag von Innenwahrnehmung zu InnenInnenwahrnehmung zu provozieren.
Die Grauwerte von Olaf Probst sind monochrome Wandarbeiten in einem technischen Grauraster, das sich durch die gleichmäßige Verteilung schwarzer Buchstaben auf weißem Grund herstellt. Die Buchstaben verschwimmen im Abstand betrachtet wegen ihr kleinen Größe zu einer grauen Fläche. Diese graue Fläche zerstört sich beim Fokussieren auf die Buchstabenreihen, da diese sich zu Wörtern fügen und Sinn erzeugen. Diese Sinnerzeugung verwandelt die graue Fläche in einen Text. Einer möglichen Außensemantisierung, in der die graue Wandfläche als Element innerhalb eines Kontextes wahrgenommen wird, kommt Probst mit dieser Binnensemantisierung zuvor. Der Grauwert oszilliert zwischen der alles bedeutenden Bedeutungslosigkeit von Monochromie und einer nichts bedeutender Bedeutung (Gemurmel) sich wiederholender Worte. Die verwendeten Worte sind als Palindromkonstruktion selbstreferenziell. Ihre Spiegelbildlichkeit formalisiert und desemantisiert sie. Auf diese Weise nivellieren sie sich auf die graue Wandfläche zurück, die sie in einer paradoxen Bewegung zugleich bilden und zerstören. Wand und Wort, Bild und Text bilden bei Probst ein semantisches Rauschen als Raster an der Wand.
Die für die Grauwerte verwendeten Wörter bewegen sich in den Kategorien des Begehrens, des Sehens, des Aneignens, des Selbstwerdens und der Selbsteinschließung. Sie bringen immer direkt oder indirekt den Betrachter als konstitutiven Teil der Arbeit ins Spiel bzw. eröffnen einen Dialog zwischen Produzenten und Rezipienten. Dadurch thematisiert sich in den Wandarbeiten jener oben beschriebene Konflikt zwischen Produzent und Rezipient, zwischen dem künstlerischen Anspruch von Monochromie und einer sie zurückweisenden oder vereinnahmenden Rezeption. Gleichzeitig spielen onomatopoetische Aspekte in den Palindromkonstruktionen eine starke Rolle. Die Klangbedeutung dieser Konstruktionen diminuieren und infantilisieren die Erhabenheit der monochromen grauen Wand. Die Wortreihen werden zu Ohrwürmern, die das Totalistische und Heroische der Wandarbeit zersetzen.
Der Grauwert 7
Der "Grauwert Nr. 19", 2001 für ein Taub-Blindenheim in Postdam entworfen, wurde zum erstenmal 2002 in der FOE 156 in München gezeigt. Es ist der zweite Vollraumgrauwert von Olaf Probst. Zuvor hatte Probst nur einmal, im Ausstellungsraum Balanstraße in München 1997 einen ganzen Raum, Wände und Decke, mit einem Grauwert (Grauwert Nr. 7) ausgekleidet. In diesem Grauwert verwendet er das Wort "List" . Dieses Wort ergibt als Palindrom "ListsiL". In gleichmäßiger Typografie ohne Leerzeichen bildet es Zeilen, die wiederum leicht versetzt einen Textblock erstellen. Der abfallend auf einen Papierbogen von 32 cm Höhe und 45 cm Breite gedruckte Textblock wurde im Rapport Stoß an Stoß an die Wand tapeziert. Die Druckplatte der Druckfahne faltete Probst zum Modell des Raumes und stellte sie als Raum im Raum auf den Fußboden in die Mitte. Durch die Raum im Raum Stapelung konstruierte er die Wandarbeit als doppeltes Außen. Zum Binnenbezug auf das im Grauwert verwendete Palindrom "Listsil" kommt nun noch der Binnenbezug auf den verkleinerten Modellraum. Auf diese Weise überlistet er den Betrachter, der wie die meisten Rezipienten jede Erscheinung, und damit auch diese Arbeit, in einen übergeordneten Bezugsrahmen setzen möchte. Die Arbeit suggeriert, ihr eigener Kontext zu sein. In dieser totalen Selbst- und Kontextreflexivität von Bild, Sinn und Raum erreicht Probsts Werk eine Radikalität, die – den veränderten Bedingungen der Kunstbetrachtung Rechnung tragend – an das avantgardistische Movens monochromer Bilder anknüpft.
Der Grauwert Nr. 19
In der FOE 156 verläßt Probst die Hermetik und radikale Selbstbezüglichkeit zugunsten eines formalen wie inhaltlichen ad infinitum-Prinzips. Die gleichmäßige Buchstabenverteilung, das gleichmäßige Raster modelliert sich im Grauwert Nr. 19 zu einer vertikal verlaufenden leichten Wellenbewegung, wobei sich durch einen starken Horizontalkontrast zugleich ein 4 cm dickes schwarz-weißes Streifenmuster herausbildet. Wie bei der Mehrzahl der Grauwerte sind hier nicht mehr alle Buchstaben lesbar. Vielmehr entstehen durch Modulation der Buchstabengröße, des Zeilenabstands und der Laufweite Buchstabenverklebungen, die zu abstrakten Linienformen ausfransen. Auf diese Weise entstehen rizomatischen Ministrukturen ähnelnde Misch- und Übergangsformen aus Buchstaben und Kringeln.
Auch auf der Wortebene ist der Grauwert komplexer als die anderen Grauwerte. Zum ersten Mal verwendet Probst einen ganzen Satz "dass ich sehe was du nicht siehst das ich nicht sehe was du siehst da ich sehe dass du nicht siehst was ich sehe da du siehst dass ich nicht sehe was du siehst", der in einer Klimax in drei Nebensätzen drei Bedeutungsebenen aufbaut. Auf diese Weise verläßt Probst die Spiegelbildlichkeit seiner Buchstabenreihen und bildet eine Satzspirale, wo Anfang und Ende sich nur scheinbar zusammenschließen – in Wirklichkeit liegen sie drei Bedeutungsstufen auseinander. Im Rapport geklebt schreibt sich mit jeder weiteren Satzschleife die Spirale fort. Selbstreferenz und Selbstreferenzunterbrecher bilden sowohl auf formaler wie inhaltlicher Ebene eine Schraubbewegung und öffnen den Grauwert für Einflüsse Dritter.
Der Grauwert Nr. 19 im white cube
Wäre Grauwert Nr. 19 wie Grauwert Nr. 7 in der Balanstraße in einem white cube, einem neutralen Ausstellungsraum, tapeziert, würde er inhaltlich und formal eine Beziehung zu Kosuths Arbeit "Zero & Not" aufbauen. Beide Arbeiten kennzeichnet die Doppelbewegung von Text setzen und Text auslöschen, beide, Kosuth und Probst, eröffnen mit ihrem Text ein Feld, in dem es um Aufnehmen, Begreifen, Herstellen von Sinn und um Fehlleistungen geht. Und beide Arbeiten strukturieren durch schwarze Horizontalstreifen Wand und Architektur des Ausstellungsraums. Kosuth verwendet einen Text von Sigmund Freud ("Zur Psychopathologie des Alltagslebens"), der auch das Phänomen des Freudschen Versprechers behandelt. Die von Kosuth in seiner Arbeit aufgeworfene Frage, auf welcher Ebene wir etwas lesen und verstehen, koppelt er an eine einschlägige klassische Untersuchung, die Freuds. Kosuths Antwort ist ein aus dem Strukturalismus adoptiertes System, das er an die Wände zeichnet. In "Zero & Not" kann in behavioristischer Methode nachvollzogen werden, wie Verständnis funktioniert, wenn der verwendete Text nicht verstanden wird.
Auch bei Probsts Satzschleife "dass ich sehe was du nicht siehst das ich nicht sehe was du siehst da ich sehe dass du nicht siehst was ich sehe da du siehst dass ich nicht sehe was du siehst" geht es um das Verstehen bzw. seine Organisation. Die Form des "Versprechers" wird bei ihm geradezu buchstäblich genommen. Probst interessieren interkulturelle Verabredungen, die Festlegung dessen, was als Fehlleistung zu gelten hat. Die Fehlleistungen, die er in seinen Arbeiten verwendet, sind entweder vorgefunden oder werden provoziert. Probsts Œuvre ist konsequent dem Fehler, dem Fusel, dem Staub, der Durchstreichung, kurz der Störung der perfekten Oberfläche verpflichtet. Lax ausgedrückt läßt er über die Wirklichkeit den Photoshop-Filter "Add Noise" laufen. Auf semantischer Ebene wird dieser Schmutz zu Viren, die Sinn ausradieren oder entstellen. Auf diesem Hintergrund erschließt sich die Einladungskarte zum Grauwert Nr. 19 in FOE 156: So wie seine Wandarbeit Grauwert Nr. 19 den Nonsens-Satz "dass ich sehe was du nicht siehst das ich nicht sehe was du siehst da ich sehe dass du nicht siehst was ich sehe da du siehst dass ich nicht sehe was du siehst" in Noise verwandelt, scannt er aus dem Noise einer Zeitungsseite diesen Satz heraus.
"Über die Wände des Erdgeschosses und das Treppenhaus verteilt Kosuth in "Zero & Not" Fahnen eines schwarzen Offset-Abdrucks von einem vergrösserten Textausschnitt aus einer niederländischen Übersetzung von Freuds "Psychopathologie des Alltagslebens" (Freud, S.-Zur Psychopathologie des Alltagslebens…, Frankfurt a. M. 1941, S.67; Verwendete niederländische Übersetzung:Freud, S.-Psychopathologie van het dagelijke leven…, Psychoanalytische Duiding I, Boom-Meppel, Amsterdam, S.85) zwölf Mal. In dem Druck sind die Buchstaben so mit einem Balken durchgestrichen, daß durch den einheitlichen Schwarzton hier jedes Schriftzeichen unkenntlich wird. Der Balken ist so breit, daß die oben und unten überstehenden Zeichenelemente dem niederländisch Sprechenden gerade noch erlauben, den Text zu rekonstruieren, was die Besucher häufig auch taten. Was in den präsentierten Balken der Nullpunkt "Zero" der in deren Schwarz verschwindenden Schriftzeichen ist, wird von den Rezipienten durch ihr kulturelles Wissen von Schrift und Sprache als Negation, als "Not", von Geschriebenem deutbar. In dem Anwesenden, dem Schwarz der Balken, wird durch kulturelles Wissen ein Abwesendes erkennbar. […] Das Ausklammern von eigenem kulturellem Vorwissen bei der Untersuchung völlig fremder Kulturen ist eine zentrale Fragestellung in Methodendiskussionen der Völkerkunde, Linguistik und Soziologie. Wenn von eigenem Wissen abgesehen werden kann, so ist es möglich, sich von "Zero" an in eine neue Kultur zu begeben, wenn nicht, dann wird die neue Kultur nach Rationalitäts-Kriterien, die in der alten erworben wurden, beurteilt. Erstere Auffassung zwingt dazu, jeder Kultur ihre eigene Rationalität zuzubilligen und sie für in vollem Umfang erforschbar zu halten, während die zweite Auffassung die einmal erworbene Rationalität für irreversibel hält. Die Feststellung der Abwesenheit, das "Not", von solcher Rationalität in fremden Kulturen ist in der zweiten Auffassung wichtig. Kosuth hat sich seit seinem Studium der Anthropologie 1971/72 an der "New School for Social Research" in New York City mit diesen Problemen auseinandergesetzt."Thomas Dreher, Joseph Kosuth-Zero & Not, 1985-86, in: Apex, Zeitschrift für Kunst, Kultur, Fotografie, No.1, Köln 1987-88, S. 71 u. S. 72.
Probst etabliert wie Kosuth eine Balance zwischen Zeigen und Ausradieren, Setzen und Löschen, um wiederum das Löschen zur Setzung zu machen. In hermeneutischer Absicht untersucht er von der Welt abgesonderte Texte (z. B. Zeitungen), um die gefundenen Bruchstellen zu Fundstellen werden zu lassen. Kosuth löscht Text und generiert Form. Der über dem Text liegende schwarze Balken verweist auf das Formenrepertoire der Moderne: Fläche, Punkt und Strich. Die unten und ober überstehenden Buchstabenteile erscheinen wie das Unbewußte der Moderne. Kosuth erweitert die Moderne um ihr verdrängtes Irrationales. Probst löscht Form und generiert Text. Er kehrt die Moderne um. Deabstraktion durch Worte. Die Monochromie zersetzt sich am Einspruch des renitenten Einzelnen, des infantilen Ungläubigen. Das Formenvokabular der Moderne wird bei Probst durch Unsinnsbeimengung seiner Erhabenheit beraubt. Vorbilder dieses verdrehten Modernismus sind Paul Klee und Kurt Schwitters.
Der Grauwert Nr. 19 in der black box
Der Grauwert Nr. 19 in der FOE 156 befindet sich aber nicht in einem neutralen white cube. Er ist auf eine Kunstarchitektur, ein architektonisches Implantat, einen Raum im Raum von Stephen Bram, tapeziert. Brams Arbeit "OBERFÖHRINGER STRASSE 156, 2001" bewegt sich wie Probsts Werk im Spannungsfeld von Semantik und Abstraktion. Abstraktionen, die sich aus der zeichnerischen Übersetzung von dreidimensionaler Welt in die Zweidimensionalität des Bildes ergeben, z. B. die perspektivische Darstellung, baut Bram dreidimensional als Architektur nach. Brams Raumobjekt resultiert aus dem Zusammenfall von Abbild und Bild, Bezeichnetem und Zeichen. Sie ist, obwohl in reinem Weiß gestrichen, kein white cube, sondern strukturell gesehen eine black box. Sie gleicht einem Apparat, der nur seine Anschlüsse, Input und Output, zeigt, während die in ihm ablaufenden Prozesse im Dunklen bleiben. "OBERFÖHRINGER STRASSE 156, 2001" ist eine Fotoarbeit ohne Fotografie. Eine Arbeit ohne Ort und Geschichte. Sie ist die Materialisation eines schwerelosen "Jetzt".
Dieses Raumobjekt überschreibt Probst mit seinem Grauwert Nr. 19. Die Legierung dieser beiden komplexen Arbeiten verursacht einen Overkill an indexikalischen Spuren und Formen, ein schwindelerregendes Flirren und Rauschen.
Brams Raumobjekt hat sein Bezugssystem außerhalb seiner selbst. Formal bezieht es sich auf den Negativraum zwischen alter FOE und dem Implantat sowie die Fluchtpunkte in der Horizontalen vor und hinter dem Ausstellungsgebäude und in der Vertikalen über dem Gebäude. Das Implantat ist auf die horizontalen Punkte hin gefaltet und läuft kegelförmig auf den vertikalen Punkt zu. Zum inhaltlichen Bezugssystem gehören die durch die eingebaute Architektur substituierte Geschichte des Ausstellungsraums FOE 156, die Formengeschichte der Moderne und künstlerische Reflexionen darauf. Probsts Bezugssystem dagegen ist ganz aus in seinem Werk ableitbar: eine monochrome Streifenstruktur und eine Satzschleife, in der ein "Ich" und ein "Du" sich über das Sehen und das Gesehene bzw. Nichtgesehene verständigen bzw. nicht verständigen. In Verbindung mit dem Werk von Stephen Bram gelesen, scheint der Satz unmißverständlich auf das außerhalb liegenden Bezugssystem des Raumobjekts zu verweisen. In diesem Fall wäre der Grauwert nicht mehr als eine Variation des von Bram eröffneten Spiels von Entsemantierung und Resemantisierung gegebener Formen und Inhalte. Eine nicht unproblematische Lesart, die riskiert, zwei fundamental verschiedene Kunstkonzeptionen in einer bloßen Tautologie zusammenzuführen. Denn Monochromie ist bei Bram -– wie bei Förg und Merz – postmodernes Zitat, nicht die problematisch gewordene kanonische Form der Moderne.
Begreift man dagegen den Satz "dass ich sehe was du nicht siehst das ich nicht sehe was du siehst da ich sehe dass du nicht siehst was ich sehe da du siehst dass ich nicht sehe was du siehst" nicht als Illustration des verborgenen Bezugssystems von Brams Implantat, entwickelt sich zwischen den beiden Arbeiten eine spannenden Kontroverse über die Frage, was Kunst ist und leisten kann. Auf Brams Konzept der abgeschnittenen, nicht ausgewiesenen Geschichte antwortet Probst mit der offenen Ausweisung aller Parameter, die seiner Arbeit zugrunde liegen. Durch Probsts Überschreibung werden dem Raumobjekt die von Bram ausgeblendeten Bedingungen wieder eingeschrieben. Diesen Prozeß zeigt Probst als Kollaps seiner eigenen Arbeit, der an der Oberkante der Architektur sichtbar wird: Die rapporthafte Tapezierung von Grauwert 19 vollzieht Faltung und Konik der Architektur, ohne sich ihr unterzuordnen. Probst tapeziert konsequent Stoß an Stoß, wobei die Druckfahnen aufgrund der kegelförmig zulaufenden Architektur eine Drehbewegung beschreiben. In gedrehter Stellung stoßen die Fahnen an Raumdecke und Bodenkante. Die überlappenden Dreiecksformen werden nach vorne umgeklappt, nicht abgeschnitten; auf diese Weise entstehen zwei weiß gezackte Friese aus Dreiecksformen. Durch die von der Architektur erzwungene Drehung des Musters wird darüber hinaus das ad infinitum-Prinzip der Satzstruktur "dass ich sehe was du nicht siehst das ich nicht sehe was du siehst da ich sehe dass du nicht siehst was ich sehe da du siehst dass ich nicht sehe was du siehst" zu einer fortlaufenden Erzählung, die ihr Ende an den Grenzen der Architektur hat. Die minimale Erzählung eines Ich, das an seinem Du vorbeisieht und vorbeiredet, wird durch die Spezifik des Raumobjekts am Laufen gehalten und immer neu aktualisiert.
Die weißen Dreiecksformen wirken wie Ausflockungen aus ihrer Umgebung aufgrund chemischer Unverträglichkeit. In ihnen taucht jene perspektivisch dargestellte Dreidimensionalität wieder auf, die Brams Architektur, deren programmatische Bezugslosigkeit in der Drehung der Druckfahnen als verlorengeganger zentraler Blickpunkt sichtbar wird, zugrunde liegt. Die unausgewiesenen Bedingungen des Raumobjekts materialisieren sich als Deformationen des Grauwerts Nr. 19. Die Brüche und Verletzungen auf der Tapetenhaut zeugen von den Problemen, die sich aus dem Aufeinandertreffen zweier grundverschiedener künstlerischer Vorgehensweisen ergeben. Probsts Grauwert im Objektraum von Bram ist ein Bekenntnis zur Produktionsästhetik. Die verborgene Seite einer seduktiv glatten Rezeptionsästhetik wie der von Bram ist ihm als ein seine Arbeit fragmentierender Virus dabei willkommen.