Michael Hofstetter


DIE SELBSTAUFHEBUNG DER ARCHITEKTUR DURCH IHRE MEDIALISIERUNG

ZUM BEGRIFF DES MODELLS

1993


"Wir mißtrauen der Dekonstruktion, der Postmoderne, dem High Tech, Low Tech, helvetischer Einfachheit, der demokratischen, integrierten und traditionellen Architektur ebenso wie der schwerkraftlosen Zeichnung, gerade weil ihre Protagonisten, aber eben nur die, überzeugend sind. Bedroht durch die Verführungen, suchen wir daher nach einem Konzept, das nur kraft seiner Erzählung Interesse weckt und zu Beginn eines Projektes ohne Zeichnung, Modell und Fragen des Stils auskommt."


Dieses Manifest war Bestandteil einer architektonischen Präsentation des Architekturbüros Allmann, Sattler und Wappner in der Lothringerstraße 13 in München anläßlich der Ausstellung "Vorschläge für den Förderpreis der Stadt München". Als ich zum erstenmal dieses Manifest, das mit Siebdruck an eine ca 25 cm dicke 3 m breite und 2,50 m hohe, eigens für die Präsentation hergestellte freistehende Stellwand gedruckt und dort Teil einer komplexen Inszenierung aus Modellen Fotos und anderen Beschreibungen war, las, empfand ich nichts Ungewöhnliches. Nichts Ungewöhnliches deshalb, weil mein ästhetisiertes Auge ja schon längst weiß, daß jede Proklamation in einem größeren ästhetischen Gefüge sich verbildlicht und der sogenannte Inhalt dieser Proklamation dadurch beliebig wird. Es hätte da auch in Helvetica halbfett stehen können "Wir bauen auf dem technisch neusten Stand Höhlen für die durch die Zivilisation verdorbenen Menschen. Unser Bestreben ist Unmittelbarkeit, Ackerbau und Genialität". Auch fand ich nichts Ungewöhnliches daran, daß die Modelle wie Aquarien oder Terrarien in die Stellwand eingepaßt wurden, diese durchbrachen und von ihr indirekt beleuchtet wurden. Das einzelne Modell subsumierte sich also unter das Gesamtmodell der Inszenierung Stellwand und umgekehrt aktualisierte das Gesamtmodell die einzelnen Modelle auf höherer Ebene. Das architektonische Modell war nicht in die Realeinheit Architektur überführt worden, war also nicht Antizipation eines kommenden Wirklichen, sondern erschien als Post-Skript, als Rezeption, als Veräußerlichung eines Realen ohne Realität gewesen zu sein, als Ereignis ihrer Inszeniertheit.

Die ganze Präsentation wirkte wie das Reallayout einer Doppelseite für eine Hochglanzzeitschrift im Hochformat. Auch dies empfand ich als vollkommen dem Zeitgeist entsprechend und auf der Höhe unseres ästhetischen Bewußtseins. Ja, hätte ich von diesem Werk früher gewußt, hätte ich dafür plädiert, es in die Modellausstellung vom November letzten Jahres aufzunehmen. Daß die ganze Inszenierung in einem immanenten Widerspruch zu dem Manifest stand, da dieses so etwas wie einen ersten unvermittelten Zugriff auf die Wirklichkeit behauptete und sich gleichzeitig in jedem Moment in einem Zustand höchster Vermittlung präsentierte, war die, ihrer selbst unbewußte, Brisanz dieses Werkes. Niemand, so dachte ich, könne sich ernsthaft mit diesem Manifest auseinandersetzen, ohne seine Inszenierung mitzulesen, welche den intentionalen Sachverhalt des Manifestes wenn schon nicht aufhob, so doch relativierte. Damit wäre mein Nachdenken über diese Arbeit abgeschlossen gewesen, wäre ich nicht auf prominente und professionelle Kunstrezipienten gestoßen, die voller Euphorie den letzten unverdorbenen Ureinwohner der Architektur getroffen zu haben glaubten und über das Manifest zu schwärmen begannen, ohne die Art und Weise der Inszeniertheit zu berücksichtigen.

Im letzten Semester hatte ich an verschiedenen Beispielen versucht einen, durch die Technologie verursachten Wandel von Wirklichkeitswahrnehmung aufzuzeigen. Pauschalisierend könnte man sagen, daß sich sukzessiv in den letzten achtzig Jahren unser produktives Verhältnis zur Wirklichkeit in ein rezeptives gewandelt hat. Das nietzscheanische Moment der Transfiguration von Materie in Geist, von Unbewußtheit in Bewußtheit, von dionysisch in appollinisch ist keine zu vollführende künstlerische Leistung mehr, sondern selbst schon, bedingt durch die Technologie, in die Wirklichkeit eingeschrieben. Dadurch verschiebt sich die "Startrampe" der künstlerischen Produktion und liegt inzwischen schon jenseits dieser Transfiguration. Meine Intention war, die Produktionsbedingung dieser Transfiguration in ihren verschiedenen gesellschaftlichen, politischen, soziologischen und ästhetischen Aspekten zu beleuchten. Dies aber immer auf dem Hintergrund, daß sich uns heute die Realität nicht mehr als eine zu wandelnde darstellt, sondern als eine, durch die besondere Dynamik von Zeichen und Bezeichnetem immer schon gewandelte. Die Grundthese, welche die Klammer um all meine Vorträge und Ausführungen bildet, könnte lauten: Bedingt durch unseren technologischen Zugriff auf Welt, erscheint uns die Welt nicht als eine zu Bezeichnende, sondern schon als Zeichen selbst. Diese Behauptung, sollte sie zutreffen, wovon ich fest überzeugt bin, hat radikale Konsequenzen nicht nur hinsichtlich unseres Gemützustandes, sondern auch hinsichtlich zu entwickelnder künstlerischer Strategien. Das von Amerika herüberschwappende Stichwort von "politically correctness" ist nicht der Kampfruf einer unterdrückten, ausgebeuteten und notleidenden Bevölkerungsschicht, sondern eine von vielen Varianten des Versuchs dem Zustand von griechischer Heiterkeit, in dem wir uns derzeit befinden, verzweifelt Wirklichkeit, Gewicht und Tiefe zu geben, indem wir diese Heiterkeit mit Problemen der Sexualtität, der Minderheiten und der politischen und gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten anfüllen.
Der Begriff des Modells, wie ich ihn vorstellen möchte und wie er auch als Konzept für jene besagte Ausstellung im November letzten Jahres in den Ritterwerken fungierte, basiert auf dem bedeutungstheoretischen Wandel des Bezeichneten in ein Zeichen. Die diesem Begriff eingeschriebene ästhetische Diskussion war ursprünglich eine semiotische, wie sie z.Bsp. Jacques Derrida in seinem Buch " Die Grammatologie" entwickelt und dort auf Ferdinand de Saussure aufbaut. Ästhetisch relevant wurde sie zum erstenmal in der Bildenden Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts durch Marcel Duchamp. Ihre heutige Aktualität bekam sie durch die Auseinandersetzung postmodern versus modern und hierbei hauptsächlich in der Architektur mit den Bauten und Schriften des Architekturbüros Venturi, Rauch, Scott-Brown.

Warum, so werden Sie sich fragen, erzähle ich Ihnen nun schon das zweite Semester etwas über das Verhältnis von Zeichen zu Bezeichnetem, von Signifikat zu Signifikant. Liegen doch die Probleme der Bildenden Kunst in Fragen des Materials, der Komposition, des Mediums usw. und nicht in Problemen, die sich um die Frage WAS IST TEXT drehen.

Während meines Studiums hier an der Akademie hatte ich des öfteren das Gefühl, daß viele sogenannte malerische - bzw. künstlerische Probleme von einem falschen, im Sinne von nicht sinnvollem Umgang, mit Begriffen herrührten. Wie oft hören wir zum Beispiel, wenn jemand über seine Arbeit spricht: da hatte ich diese oder jene Idee und die versuchte ich so und so auszudrücken. Den meisten Reden über die eigene oder fremde Arbeit unterliegt eine unbewußte oder bewußte Dichotomie zwischen Inhalt und Form, zwischen Eigentlichem und Repräsentiertem. In unterschiedlichster Weise scheint durch, daß es so etwas wie Realität gibt und diese in eine Fiktion überführt wird, die dann etwas über die Realität aussagt. Dies geht dann so weit, daß das Ganze einen moralischen Charakter bekommt. Gestische Malerei ist gut weil sie unmittelbar, emotional, wahrhaftig und ungekünstelt ist, während Fotografie und Video, Objekte und Konzeptkunst immer den Makel des künstlichen und falschen Scheins an sich tragen. Dieser Diskussion über Lüge versus Ehrlichkeit liegt eine Bedeutungstheorie zugrunde. Eine Bedeutungstheorie, die davon ausgeht, daß zwischen Zeichen und Bezeichnetem eine Differenz besteht, die überwunden werden kann. Diese Bedeutungstheorie arbeitet mit der weitverbreitenten Voraussetzung, daß es so etwas wie eine wahre, ehrliche und eigentliche materielle Welt auf der einen Seite gibt und daß auf der anderen Seite eine Fülle von Zeichen existiert, die imstande sind, diese wahre und wirkliche Welt abzubilden. Diese Zeichen fungieren hierbei als Hilfswerkzeuge, die es gilt, im Gebrauch zu überwinden und dabei das Wahre, die Welt, zur Erscheinung zu bringen. Werden die Zeichen bei ihrem Gebrauch nicht zugunsten der eigentlichen Welt überwunden, sondern schieben sich vor diese und ersetzen sie, so kommt man schnell in den Verdacht, falschen Zauber zu veranstalten. Dieser falsche Umgang mit den Zeichen, dieses falsche benennen und unwahrhaftige abbilden gilt als moralisch verwerflich. Das eingangs zitierte Manifest des Architekturbüros argumentiert genau auf dieser Vorausetzung wenn es alle Stile ganz frech als für es nicht in Frage kommend bezeichnet und erklärt, daß es am Anfang eines Projektes ohne Zeichnung, Modell und Fragen des Stils auskommt. Hier wird suggeriert, daß es so etwas wie einen unmittelbaren Zugriff auf Welt gäbe und daß dieser unmittelbare Zugriff erst beim Zugreifen seine Sprache erstellt. Unser Zugriff auf Welt ist aber immer nur ein Zugriff auf Zeichen.

Das Ding selbst ist ein Zeichen.
zitiert Derrida Peirce und schreibt weiter Für Husserl ist diese Voraussetzung jedoch schlechthin unannehmbar; mit ihrem >Prinzip der Prinzipien< bleibt seine Pänomenologie die radikalste und kritischste Restauration der Metaphysik der Präsenz. Zwischen der Phänomenologie von Husserl und der von Peirce besteht eine fundamentale Differenz; fundamental, weil sie die Begriffe des Zeichens und der Manifestation der Präsenz, die Verhältnisse zwischen Vergegenwärtigung und ursprünglichen Gegenwärtigung des Dings selbst (der Wahrheit) betrifft. Peirce kommt in diesem Punkt ohne Zweifel dem Erfinder des Wortes Phänomenologie näher: Lambert stellt sich in der Tat die Aufgabe, die >Theorie der Dinge auf die Theorie der Zeichen zurückzuführen<. Nach der >phaneroscopy< oder >phenomenology< von Peirce enthüllt die MANIFESTATION selbst keine Präsenz, sondern produziert Zeichen. In den Principles of phenomenology ist zu lesen, daß >die Idee der Manifestation die Idee eines Zeichens ist <. Es gibt also keine Phänomenalität, welches das Zeichen oder den Repräsentanten reduziert, um schließlich das bezeichnete Ding im Glanz seiner Präsenz erstrahlen zu lassen. Das sogenannte >Ding selbst< ist immer schon ein representamen, das der Einfältigkeit der intuitiven Evidenz entzogen ist. Das representamen kann nur funktionieren, indem es einen Interpretanten hervorbringt, welcher seinerseits zum Zeichen wird und so ad infinitum.

Jacques Derrida, Grammatologie, Suhrkamp Verlag Frankfurt Seite 86

 

An dieser infiniten Dynamik des Vergegenwärtigens zwischen dem Repräsentierten und dem Repräsentanten, zwischen Bezeichnetem und Zeichen, zwischen Signifikat und Signifikant temporalisiert sich die Wirklichkeit. An dieser Temporalisierung durch die permanente Supplementierung des Bezeichnens durch ein Zeichen bildet sich die SPUR. Sie ist die Repräsentation transitiven Umschlagens von Zeichen und Bezeichnetem in der Zeit. Es ist die einzig mögliche Manifestation - als Welt im Schein. Eingefroren wird diese Spur zum Fetisch: ein Ausweis metaphysischer Begründung; obwohl die Spur überhaupt nur aufgrund der Negierung eines methaphysischen Standpunktes zustande kam. Die Fotografie ist ein Beispiel für die eingefrorene Spur. Heilsgeschichte ist die Totalisation der eingeforenen Spur. Mit der SPUR haben wir das erste Merkmal des Modells gewonnen. 
Im Modell manifestiert sich Wirklichkeit als SPUR.


In meinem Katalogtext zur Modellausstellung habe ich das Phänomen der Spur an den Anfang von zehn Thesen gesetzt, was das Modell sei, ohne das Wort "Spur" zu gebrauchen.


"IM MODELL SCHLÄGT ANTIZIPATION UM IN VERÄUßERLICHUNG UND VICE VERSA"


Im Modell ist ein Objekt noch nicht realisiert und gleichzeitig doch schon realisiert; gleichzeitig antizipiert und veräußerlicht. Das Objekt selbst erscheint nur an diesen beiden Polen als etwas Mögliches und als Verführendes, somit existiert es nicht im Sinne eines eigenständig für sich selbst Seienden. Beide Pole sind Rezeptionspole: Die Antizipation ist der Pol vor dem eigentlichen Objekt und die Verführung ist der Pol nach dem eigentlichen Objekt. Real erscheint das Objekt nur in seiner Bezogenheit auf ein Subjekt als Realität der Wahrnehmung. Das Objekt selbst aber bleibt Fiktion. Nie ist es ein eigenständiges Objekt, das sich durch die Qualität der Differenz zum Subjekt als Gegen-stand verhält. Alle Gegenstände können zum Modell werden, wenn sie ihr gegen das Subjekt stehende Moment verlieren. Modellartig werden die Dinge, wenn sie nur als vor ihrer selbst und gleichzeitig nach ihrer selbst existieren.

Michael Hofstetter, Das Modell, Konzepttext 1991


Dieser Umschlag bzw. die temporale Überführung von einstmals Bezeichnetem in Zeichen, welche sich wiederum zu Bezeichneten höherer Ordnung wandeln, ist das zentrale theoretische Fundament des Postmodernismus. Es ist die Dynamisierung von Produktionsideen in eine zeitlichen Verlaufsform und den dadurch bedingten Perspektivwechsel von der Sicht des Vor-Realen in ein Nach-Reales, von Planung in Rezeption. Hierbei wird deutlich, warum Postmodernismus sich nicht in der Kunst, sondern sich in der Architektur gebildet hat. Nirgendwo ist der Abstand zwischen Absicht, Intention, Konzeption und Rezeption bzw. Gebrauch größer als in der Architektur. Es sind nicht nur die Unwägbarkeiten des emotionalen Haushaltes der menschlichen Seele, nicht nur die Rezeption durch den Gebrauch, welche oft die schönsten ideelsten und klarsten Absichten des Architekten zu Fall bringen, sondern meistens bedingt eine ideologische Blindheit der Architekten selbst, das Umschlagen der architektonischen Absicht in ihr krasses Gegenteil. Meistens ist es jene oben eingebaute Falle im Zeichensystem, welche, die Absicht bei der Realisierung in sein Gegenteil verkehrt. Das Architekturbüro Robert Venturi, Rauch und Scott Brown hat jene Falle des Umschlagens von einem Signifikat zum Signifikant durch die materielle Realisierung zum zentralen Punkt seines Bauens gemacht. In dem Aufsatz "Functionalism, Yes, But." wird genau dieser Umschlag von Konzeption in Rezeption anhand der funktionalen Architektur beschrieben. Schon im ersten Satz stellen die Autoren die freche These auf, daß funktionalische Architektur nie funktional war, sondern Funktionalität repräsentierte. Sie schaut mehr funktional aus, als daß sie funktional ist. Insofern war und ist die Funktionalität bzw. die ihr zugrunde gelegten Unmittelbarkeit nur symbolisch unmittelbar. "This was all right because architecture has always been symbolic..." Nicht nur hinsichtlich der symbolischen Vermitteltheit der Formen, sondern auch hinsichtlich der Idiosynkrasie der modernen Architektur zeigt unser humorvolles Autorenteam auf, welcher Selbstfehleinschätzung die Architekten damals unterlagen. Nichts ist dagegen zu sagen, wenn man das Ornament als Stilmittel ablehnt, trotzdem sollte man dann seinen Augen mehr trauen als der Absicht. Eine ornamentlose, klare, einfache Architektur wird selbst zu einem großen Ornament in der Umgebung in die sie gesetzt wurde. 


Die Blindheit der Modernität, dessen Beginn ich an das Ende des 18.Jahrhunderts lege und mit dem Namen Jean Jacques Rousseau verbinde (obwohl dieser sich antipodisch zu dem beginnenden Zeitalter verhielt) ist ihre Fortschrittsgläubigkeit. Das moderne Bewußtsein baut auf den Gegensätzen Natur/ Kultur, Extern / Intern, Objekt / Subjekt, Wirklichkeit / Abbild, Repräsentation / Präsenz als feste, unerschütterliche, unhintergehbare Kategorien auf. Je technischer, je fortschrittlicher, je reiner bezeichnet wurde, umso mehr glaubte man, sich dem Eigentlichen, der Natur, zu nähern. Am Anfang des 20.Jahrhunderts galt es in allen Disziplinen, das überfrachtet Zivilisatorische zu reduzieren, das Kulturelle, das Zeichenhafte bzw. Scheinhafte zugunsten des Eigentlichen abzubauen. In diesem Zusammenhang war die Idee der Funktionalität in der Architektur so etwas wie  Natur – nicht in ihrer Erscheinung, in ihrer Re-Präsenz, sondern in ihrem Bauprinzip, in ihrem Sein. Funktionalität war Natur. Hier war der Architekt in seiner mimetischen Fähigkeit Gott gleich. Der Ende des 19. Jahrhunderts aufkommende Hang zum Gesamtkunstwerk, war der Versuch die Welt nochmals durch Architektur gefaßt in ihrer essentiellen Totalität neu zu schaffen. Nicht nach Natur, sondern wie Natur lautete der Schlachtruf. Alles, was als Abbild von Wirklichkeit und nicht Wirklichkeit selbst war, wurde zu erbärmlicher Häßlichkeit. Eine Bewegung der Verachtung gegen Dekoration, Ornament, Schmuck, Tafelmalerei und gegen alles Versatzhafte, Zeichenhafte und Abbildhafte setzte ein. Die bekanntesten und radikalsten Protagonisten unter diesen mysthischen Naturerbauern waren neben Rudolf Steiner, Adolf Loos, Henri van der Velde, Mies van der Rohe, Frank Loyd Wright. Es ist kein Zufall, daß ein Aufsatz mit der Überschrift "Architektur" von Adolf Loos mit einer Beschreibung vollkommener Natur anfängt:


May I take you to the shores of a mountain lake? The sky is blue, the water is green, and everything is at peace. The mountains and the clouds are reflected in the lake, as are the houses, farms and chapels. They stand as if they had never been built by human hands. They look as if they have come from God`s own workshop, just like the mountains and the trees, the clouds and the blue sky. And everything radiates beauty and quiet. 
What is the discord, that like an unnecessary scream shatters the quiet? Right at the centre of the farmer's houses, which were not built by them, but by God, stands a villa. Is it the product of a good or a bad architect? I do not know. All I know is that beauty, peace and quiet have been dispelled.

Adolf Loos, Someone is buried here, in: Adolf Loos on architecture and death, Neue Freie Presse, Vienna, 1910.


Teil dieser vollkommenen Architektur ist auch ein Haus, ein Bauernhaus. Dieses ist nicht nur von Gott deshalb erbaut, weil, wie Loos später schreibt, all seine Materialien aus der umliegenden Natur kommen und die Handwerker, die es erbauten, es gemäß den ihnen geläufigen Traditionen bauten und nicht aufgrund einer gestalterischen Idee; nein, es ist auch deshalb von Gott gebaut, weil der Bauer, der dieses Haus bewohnt, hier an dieser Stelle seinen Platz hat. All dies unterscheidet das Haus von der Villa, die gleich danebensteht. Architektur im Sinne der Modernität ist nicht schön oder häßlich, sondern richtig oder falsch, wahrhaftig oder verlogen. Der Parameter für die Beurteilung einer Architektur leitet sich in der Moderne von einem Naturbegriff ab, der gleichgesetzt wird mit dem Eigentlichen. Hierin handelt es sich um dasselbe Phänomen wie bei Husserl: um eine Metaphysik der Präsenz, um eine Identitätsanstrengung zwischen Bezeichnetem und Zeichen. Es ist der Glaube, das Zeichenhafte würde im genauen Bezeichnen verschwinden zugunsten einer totalen Präsenz des Bezeichneten, zugunsten von Natur. Der wohl radikalste Versuch in der Philosophie die Sache selbst zum Sprechen zu bringen indem man die Sprache auf ihre kleinste logische Einheit minimalisiert ist der Tractatus logico-philosophicus von Ludwig Wittgenstein. Die ganze Generation des beginnenden 20. Jahrhunderts war von dem Gedanken besessen, es gäbe so etwas wie eine reine, klare, Ur-form, ein Zeichen, das keine Differenz zur Natur mehr aufweist. Frank Loyd Wright ist in dieser Hinsicht der radikalste und eloquenteste Protagonist gewesen und gleichzeitig einer, an dem man am deutlichsten heute eine natur - mystische Ideologie ablesen kann, welche als das genaue Gegenteil ihrer eigenen Intention erscheint. Nicht Natur selbst spricht in seinen Bauwerken zu uns, sondern eine zeitbedingte Auffassung von Natur, nicht Präsenz der Natur, sondern Repräsenz einer Ideologie, nicht organisches Bauprinzip, sondern nur dessen symbolisierte Erscheinung. Er ist vollkommen mit seiner Architektur in die zivilisatorische Spur zurückgefallen, von der er sich zu befreien trachtete. Sein Buch "Ein Testament" führte aus, was bei seinen zeitgenössischen Kollegen in deren Bauwerken mehr oder minder bewußt durchgeführt ist. Hier gibt es keinen Zweifel mehr: der Messias der modernen Zeit ist der Architekt:


Ich habe mich ständig auf eine "humanere" Architektur bezogen und möchte daher versuchen zu erklären, was ich, ein Architekt, unter menschlich verstehe. Wie in der organischen Architektur liegt die Qualität der Menschlichkeit im Menschen. Wie das Sonnensystem nach Lichtjahren berechnet wird, so soll das innere Licht das sein, was wir als Menschlichkeit bezeichnen. Dieses Element, der Mensch als Licht, liegt jenseits aller Berechnung. Buddha war als Licht Asiens bekannt; Jesus als Licht der Welt. Das Sonnenlicht verhält sich zur Natur wie jenes innere Licht zum Geiste des Menschen: Menschlichkeit. Menschlichkeit steht über dem Instinkt. Menschliche Phantasie wird durch dieses innere Licht geboren, erkennt, erschafft; stirbt aber lebt als Lebenslicht weiter, wenn es im Menschen lebendig war. Der Geist wird von ihr erleuchtet, und zwar mit solcher Kraft, daß sein Leben selber dieses Licht ist, von ihm ausstrahlt und seinerseits andere erleuchtet. Das stete Leuchten dieses Lichtes, welches das Menschenleben und -werk bestrahlt, ist des Menschen wahres Glück.
Es gibt nichts Höheres im menschlichen Bewußtsein als Strahlen diese innneren Lichtes. Wir nennen sie Schönheit. Schönheit ist nur der Schein des Lichtes im Menschen - der Glanz der hohen Romantik seines Menschtums, so wie wir wissen, daß Architektur, Kunst, Philosphie und Religion romantisch sind. Sie alle nähren das unauslöschliche Licht in der Seele des Menschen oder werden von ihm genährt. Es kann keine intellektuellen Erwägungen über diese Inspiration hinaus anstellen. Von der Wiege bis zum Grab sehnt sich sein wahres Wesen nach dieser Realität, damit sein Leben nach dem Tode als Licht im Jenseits gesichert ist..........


Sie werden sich nun sicher fragen – es sei denn, Sie sind durch Pfarrerstochter- oder -sohnesschaft oder durch nachhaltigen Einfluß von seitens einer Sekte dieses Unmittelbarkeitsgeschwätzes bereits überdrüssig – warum der Hofstetter dieses Testament so kritisch betrachtet. Es geht mir keinesfalls darum, die Persönlichkeit Frank Loyd Wrights in irgendeiner Weise zu diskreditieren, sondern ich möchte den mysthischen Anspruch seiner Architektur dokumentieren und damit den Punkt markieren, worauf Derrida philosophisch und der Postmodernismus bildnerisch reagiert. Trotzdem möchte ich hier kurz auf die Gefahr eingehen, die ein solch unmittelbares Beschwören der Natur in sich trägt. Es ist die Gefahr, die in der Rede selbst steckt, wenn sie den symbolischen bzw. supplementären Charakter der Rede nicht erkennt. 


Der Rede, insofern sie natürlich oder zumindest der natürliche Ausdruck des Gedankens, die natürliche Form der Institution oder Konvention ist, gesellt sich die Schrift bei, fügt sich ihr als ein Bild oder eine Repräsentation hinzu. In diesem Sinne aber ist sie nicht natürlich. In der Einbildung und in der Vorstellung bewirkt sie die Verschiebung einer unmittelbaren Präsenz des Gedankens zum gesprochenen Wort, zur Rede. Dieser Rekurs ist nicht nur >bizarr<, er ist gefährlich. Denn was addiert wird, ist eine Technik, eine Art künstlicher und undurchschaubarer List, die die Anwesenheit der Rede bewerkstelligen sollen, während sie in Wahrheit abwesend ist. Sie ist eine Gewalt, die für das natürliche Geschick der Sprache geschaffen wurde. Die Schrift ist gefährlich, sobald die Repräsentation sich in ihr für die Präsenz und das Zeichen für die Sache selbst ausgeben will. Es erweist sich als eine fatale und der Funktionsweise des Zeichens selbst inhärente Notwendigkeit, daß das Substitut seine stellvertetende Funktion vergessen macht und sich in die Erfüllheit eines gesprochenen Wortes erheben läßt, von dem es trotz allem nur das Supplement seiner Nichtvorhandenheit und seiner Schwäche sein kann.{...} Das Supplement fügt sich hinzu, es ist ein Surplus; Fülle die eine andere Fülle bereichert, die Überfülle der Präsenz. Es kulminiert und akkulminiert die Präsenz. Ebenso treten die Kunst, die techne , das Bild, die Repräsentation, die Konvention usw. als Supplement der Natur auf und werden durch jede dieser kulmulierenden Funktionen bereichert.........Das Supplement nimmt auf natürliche Weise den Platz der Natur ein. 

Jacques Derrida, Grammatologie, Suhrkamp Verlag Frankfurt Seite 249


Ich sprach oben davon, daß die im "Testament" heilsbringende Rede einen, und ich würde sogar sagen, den zentralen Punkt der modernen Architektur beschreibt und markiert. Das Merkmal moderner Architektur ist Transparenz. Sowohl die Selbstransparenz hinsichtlich der Konstruktion, auch Funktionalität genannt (z.Bsp. Sichtbarmachung und Trennung der tragenden Elemente von den nicht tragenden Elementen und Offenlegung der verwendeten Materialien), als auch die Transparenz des Innenraums gegenüber dem Außenraum sind die zentralen Punkte dieser Architektur. Die Öffnung des Innenraums in den Außenraum wurde methaporisch in der oben zitierten Stelle des "Testaments" beschrieben. Es ist die Öffnung der Seele zu Gott hin, bzw. wird umgekehrt Gott in den Innenraum hineingelassen. Der Mensch begibt sich auf diese Weise direkt in den Einfluß von Gott. Beide haben die selben Ziele, deshalb muß sich der Mensch nicht mehr hinter dicken Mauern vor Gott verbergen. Er kann sich veräußerlichen. Er kann unmittelbar zu ihm Kontakt aufnehmen. Die erzwungene Überwindung der Differenz zwischen Bezeichnetem und Zeichen im Bewußtsein metaphorisiert sich in der Aufhebung der Differenz zwischen Innen und Außen, Mensch und Natur, Ich und Gott. Das Außen dringt und durchdringt das Innen und verleibt sich dieses ein. Abgesehen davon, daß hierdurch wieder der strafende alles kontrollierende Blick Gottes wieder eingeführt wurde, und damit der Mensch vollends verdinglicht wurde, daß de facto statt Humanität Barbarei sich einstellte und also das Gegenteil der intendierten Absicht eintraf, passierte etwas, was grundlegend für die Postmoderne wurde: Nicht das Außen durchdrang das Innen sondern das Innen erweiterte sich in das Außen. Statt Demut errichtete der Mensch Herrschaft. Wieder war jene Verwechslung von Zeichen und Bezeichnetem, jene oben beschriebene Mißachtung des supplementären Charakters des Zeichens, jene Blindheit gegenüber der Dynamik des Bezeichneten, das sich im Bezeichnen in ein Zeichen wandelt, dafür verantwortlich, daß die Produktionsidee sich durch Rezeption in ihr pures Gegenteil wandelte. Wenn ich ein Haus in die Natur baue, das mit dieser verbunden und verzahnt werden soll, so überführe ich aufgrund der Dynamik des Bezeichnens das Haus nicht in die Natur, sondern die Natur in das Haus. Nicht das Haus, das Zeichen wandelt sich zurück in das Eigentliche, sondern die Natur wird zum Symbol von Natur, zum Zeichen von Natur unter den Bedingungen des Hauses. Der Schlüssel für diese Verkehrung von Intention und Realität liegt in dem Satz von Peirce: " Der Anbruch der Bezeichnungsbewegung ( in meinem Falle hier Hausbau) macht zugleich deren Unterbrechung unmöglich. Das Ding selbst ist ein Zeichen. Anything which determines something else (its interpretant) to refer to an object to which itself refers (its object) in the same way, the interpretant becoming in turn a sign, and so on ad infinitum..." 
Hier nun wird die volle Bedeutung dessen klar, was es heißt, wenn Venturi sagte, daß die funktionelle Architektur nie funktionell war, sondern nur so ausschaute. Moderne Architektur, und nicht nur diese, sondern auch die bildende Kunst und die Philosophie, mit ihrer Behauptung von Essentialität, Präsenz, Phänomenologie und Unmittelbarkeit, fiel in der und durch die Geschichte zurück in jene notwendig sich bildende Spur der Supplemente, die jedes Repräsentationsystem in seiner Akkumulierung von Supplementen höherer Ordnung bildet.


Diese Tatsache beschreibt der Titel dieses Vortrages: Die Selbstaufhebung der Architektur durch ihre Medialisierung. Welcher nun genauer heißen müßte Die Selbstaufhebung der modernen Architektur durch ihre notwendige Rezeption als Zeichen, und damit ihre Überführung in Struktur. Aber sie wissen ja, daß man aus marktschreierischen Gründen Sachen verkürzt, was wiederum ja auch Thema dieses Vortrages ist.


Die Wandlung des Bezeichneten in ein Zeichen, welches wiederum Bezeichnetes eines folgenden Zeichens wird, blendet jeden metaphysischen Standpunkt aus. Dieser kann nicht mehr durch die sich bildende Spur gefaßt werden, weil der Versuch einer Einahme eines solchen Standpunktes sich sofort in die Spur integriert und diese erweitert. Auf diese Weise subsumiert sich jeder Versuch, einen Standpunkt des Außen zu denken automatisch unter das Innen. Die postmoderne Architektur ist eine Architektur von ineinander geschachtelten Innenräumen. Es ist die Akzeptanz, in einer Totalität von sukzessiven Verinnerlichungen zu leben, wobei jedes Außen, jedes Bezeichnete nur der vorübergehender Zustand eines kommenden Wandels in ein Innen, in ein Zeichen bedeutet. Dies ist die Voraussetzung unter der man die Architektur eines Venturi, eines Johnson und eines Rucker lesen muß. Unter dieser gewinnen Projekte wie das Guild House, der Western Plaza, der Franklin Court, das AT&T Building, der Lipstick und .. .ihre Bedeutung. Die Auffassung von Welt als ineinander verschobene und geschachtelte Innenräume hatte im Islam aufgrund der streng monotheistischen Tradition der Exklusivität von Gott schon immer Tradition. Von hier her läßt sich das Bilderverbot verstehen, als eine Vermeidung der Ausdehnung der Spur, der Supplemente. Es ist daher kein Zufall, daß sich in der Architektur in Zukunft jene Architekten hervortun werden, die aus dem islamischen Raum kommen, wie der New Yorker Hani Rushid und die Londonerin Zaha M. Hadid, die gerade diese Woche mit ihrem Bau einer Feuerwehrstation in Weil durch die Medien ging. Ich hoffe, es findet sich in diesem Semester noch Gelegenheit, die beiden Architekten eingehender vorzustellen.


Modelle dieser Verschachtelung von Außen/Innen in Innen/Außen und schließlich in Innen/Innen liefert uns die Filmindustrie. Nicht nur in den Studios selbst ist diese Schachtelung und mit ihr das Spiel zwischen Scheinbar Real / Scheinbar Fiktiv und Realschein und Fiktivschein abzulesen, sondern im Kino selbst ist es vorhanden mit dem Wechselspiel zwischen Realzeit und Illusionszeit und Realraum und Illusionsraum. Dan Graham hat letztes Semester an einem seiner Kinomodelle diese Verschachtelung vorgeführt. Dies ist gemeint, wenn ich von Medialisierung der Architektur sprach. Man könnte ebensotreffend von Interieurisierung sprechen. Allen Sprechweisen ist eines gemeinsam: Die modernen Daseinspole wie Außen Innen, Real / Illusion, Schein / Sein, Wirklichkeit/ Image sind keine festen Größen mehr, sondern nur noch transitive Zustände eines infiniten Prozesses der durch unser Beziehen auf Welt in Gang gekommen ist.


"IM MODELL ERSCHEINT DIE WELT OBWOHL ALS ZEICHEN ERSTARRT TRANSITIV"

Sowie der Gegenstand sich durch das Bezeichnen zu einem höheren Aktualitätsgrad, als Zeichen konkretisiert, bzw. erwacht, erwacht auf dieselbe Weise der ihm zugehörige Mensch aus dem gewohnten Leben, wenn sich die Mode wechselt. Beide, Mensch und Gegenstand, haben sich in der Gewohnheit kurz vereinigt, um ein Gehäuse zu bilden. Die Geschichte entnabelt sie wie die Psychoanalyse, um sie gleichzeitig in einer neuen Aktualität, im neuen Gewande wiederum zu verschmelzen. Auf diese Weise ornamentiert sich Sein in zeitlicher und räumlicher Wiederholung. Aus der Flüchtigkeit des Wechsels strickt sich ein Band statischer Langeweile. In ihm schreibt sich Geschichte als wechselnder Umschlag dialektischer Daseinspole: Traum/Wach; Außen/Innen; Konstruktion/Fassade; Fortschritt/Verfall, Schein/Sein; Planung/Reklame; Kontemplation/Zerstreuung; Weiblich/Männlich. Mensch und Ding gebären sich immer wieder aufs Neue in diesen Zuständen. Sie selbst realisieren sich nur noch in der Transitivität. In dem ewigen Versuch, ein Gehäuse zu prägen.


"DAS MODELL KENNT UNS NUR ALS SPIELER, ALS FLANEURE, ALS WARTENDE"

Michael Hofstetter, Das Modell, Konzeptext zur Modellausstellung 1991