Michael Hofstetter, 1993
und wieder einmal endet ein jahrhundert
"Jeder widergeist jedes vernüfteln und hadern mit dem leben zeigt auf einen noch ungeordneten denkzustand und muss von der kunst ausgeschlossen bleiben."
Stefan George
Die natur ist jetzt mit waffenklang erwacht.
Als Paula Modernson-Becker und Max Klinger nach Worpswede zogen, um eine Künstlerkolonie zu gründen, war das nicht ein Ergebnis von ökonomischer Überlegungen, nicht eine Frage "wie man billig über die Runden kommt", sondern Programm, nämlich war programmatischer Ausdruck einer Kultur- und Zivilisationkritik. Ein Gleiches gilt vom Gang Wassily Kandinskys und Gabriele Münters nach Murnau. Unter den unzähligen Künstlern, die während der letzten Jahrhundertwende von der nervösen, dekadenten und lebensfeindlichen Stadt auf das Land zogen, waren diejenigen die Ausnahme, die sich in das dörfliche Leben restlos einfügen und sich der Mühsal und Profanität eines bäuerlichen Berufes hingeben wollten; es waren fast ausnahmslos Privilegierte, Intellektuelle, die den Gedanken hatten, fortan auf das Denken zu verzichten und sich den Gesetzen der Natur hinzugeben.
Johannes Gottwald lebt in Hermannsdorf in einer ähnlichen Situation wie Klinger in Worpswede. Auch für ihn hat sein Wohnort programmatischen Charakter: Kunst und Leben sollen sich miteinander verbinden und zu einer allumfassende Geste des Daseins werden.
Nicht nur in der Wahl des Lebensortes gleicht Gottwald diesen berühmten Stadtflüchtern, sondern die Werkinhalte wie auch das Formvokabular weisen auf künstlerische Positionen des Fin de siècle. Gottwalds Werk ist in seiner Endzeitpostulierung aber nicht singulär. Die Wiederentdeckung der amerikanischen Künstlerin Louise Bourgeois ist ebenso ein Zeichen für die Hinwendung zu Formen und Inhalten des ausgehenden 19.Jahrhunderts, wie der große Erfolg der Künstlerin Marina Abramovic. Es scheint wieder einmal so wie damals, daß die westliche Gesellschaft rationaler Positionen müde geworden ist. Vieles spricht dafür, daß wir am Anfang des Endes des zwanzigsten Jahrhunderts stehen, und daß wir das Ende des letzten Jahrhunderts unter den Bedingungen dieses Jahrhunderts aufs Neue im Begriff sind zu wiederholen.
Und hoch vom äther bis zum abgrund nieder
Das künstlerische Werk von Johannes Gottwald konstituiert sich in dem Dreieck von Technik, Mystik und Natur. Jenem Begriffsfeld, in dem sich alle wichtigen politischen, psychologischen und sozialen Fragestellungen des Fin de siècle abspielten - auch wenn man heute den Begriff der Natur durch den der Ökologie ersetzt hat. Gottwalds Werk ist nicht zu trennen von einer allgemeinen Endzeitstimmung, nicht zu trennen von einem kultur-pessimistischen und geschichts-spessimistischen Grundton, ist eingebettet in ein Verlangen nach positiver Lebenstotalität, durchdrungen von einer gesamtkünstlerischen Absicht. Dies alles sind Phänomene, die wir aus der Philosophie von Henri Bergson, aus der Lyrik von Stefan George, aus der Prosa von Knut Hamsun, aus der Musik von Wagner, aus den Bildern von Klinger, aus dem Kunsthandwerk von Gallè und der Schule von Nancy kennen.
Dieser Typ des Zivilisationskritikers, des Stadtflüchters, des Naturmystikers, des Reinheits- und Unmittelbarkeitsbeschwörers ist kulturreflexiv reflektiert und verarbeitet worden. Das Leiden an der Vermittelheit der Dinge sowie die ideologischen Maßnahmen zur Durchbrechung dieser Vermittelheit stehen nicht nur bei Goethes Faust im Mittelpunkt, sondern sind bei Musil in der Figur des Moosbruggers ebenso anzutreffen wie bei Thomas Mann in dem Roman Doktor Faustus. Kein Werk hat gründlicher die Konsequenzen einer Naturhinwendung als Resultat intellektuellen Selbsthasses reflektiert als dieses Werk. Hier ist die deutsche Katastrophe in ihrer geschichtlichen, kulturellen und sozialen Genese so radikal beschrieben, ist der absurd anmutende Zusammenhang zwischen Worpswede und Auschwitz in seiner Verschlungenheit so durchleuchtet, daß man dem Diktum Theodor Adornos, daß man nach Auschwitz keine Gedichte mehr schreiben könne, hinzufügen müßte: es ist auch nicht mehr möglich fahnenschwingend aufs Land zu ziehen.
Warum sollten wir uns also auf das Zaubergut Hermannsdorf bei Glonn begeben und dort Johannes Gottwald besuchen? Warum sollten wir uns auf seine Totalitätsnaturkunstwerke einlassen?. Warum sollte sich unser geschichts- und selbstreflexives Vermögen an den "Rhythmen des Waldes", an der alles durchwirkenden Ordnung der Natur, jenem ständigen Verweisen von Mikro- auf Makrokosmos und vice versa abstoßen und wir uns als Blinde und Taube entlarven - zu tumb, Äon und Äther zu erfahren.
Johannes Gottwalds Werk erhält nicht nur dadurch Relevanz, daß es Fragestellungen hinsichtlich unseres Daseins aufnimmt, die traditionell immer nach den falschen Anworten greifen. Die Tradition der falschen Antworten aber zehrt in keinster Weise an der Beständigkeit der Fragestellungen. Falsch sind die Antworten deshalb, weil sie ohne den relativierenden und differenzierenden Begriff >Geschichte< zustande kommen, weil in ihnen die Welt mit ihren Erscheinungen in ein analoges, sich beständig spiegelndes harmonische Schicksalsystem gefaßt wird, in der menschliche Erkenntnis nur noch als orakelnde Horoskopiererei möglich ist. Nein, Gottwalds Werk erfährt seine Relevanz nicht durch die Wiederaufnahme von Ideen Jacob Böhmes, Nicolai Berdjajews, Joh. Gottfried Herders oder Rudolf Steiners, sondern dadurch daß sein Welterklärungsmodell seine "falsche" Position dialektisch immer an eine andere "falsche" Position gekoppelt ist. In dieser dialektischen Gegenposition ist die Kunst nicht magischer Kranz, der Weltkräfte bzw. Weltprinzipien in einem Wechselspiel vereinigt, sondern ist kommunikativer Katalysator einer fortschreitenden, an gesellschaftliche Prozesse gebundenen Geschichte. Wobei die nur Gültigkeit erhält wenn sie eine soziologische Funktion erfüllt und relevant nur hinsichtlich ihres gesellschaftlichen und entmystifizierenden Charakters ist. Diese Position, die man lax als das "linke" Gegenstück zu dem oben beschriebenen "rechten Modell" bezeichnen könnte, basiert auf Ideen von Karl Marx, Berthold Brecht und Georg Lukács und schwappt gerade unter dem Stichwort "Politically correct" mit erheblicher Meinungsöffentlicher Durchschlagskraft von America zu uns herüber. Sie ist das speudo-zivilsatorische Gegenstück jener oben beschriebenen Zivilisationskritik.
Die Kunst endeckt zur Zeit wieder einmal die Wirklichkeit. Diese erscheint auf der einen Seite als Naturtotalität, als ewiges Gesetz, als unbarmherzige, aber wahrhaftige Gebieterin über Leben und Tod, als Rythmus von Zeugen und Gezeugtwerden, wie z. Bsp. im Werk von Johannes Gottwald oder Marina Abramovic, auf der anderen Seite als Gesinnungsästhetik als bloße Begriffsillustration, wie z. Bsp im Werk von Hans Haake oder Fraser. Ästhetischer Prüfstein für die Letzeren ist die Frage, ob das Werk formalistisch und damit bürgerlich-dekadent, oder sozialpolitisch-inhaltlich und damit revolutionär und fortschrittlich sei. Beide Strategien, so konträr sie auch erscheinen mögen, ist der Gestus der Unterordnung scheinbar individueller Belange zugunsten eines höheren, reineren und wahrhaftigeren Prinzips zu eigen - beide verbinden sich in der Idee des Daseins als eines zu vollziehenden. Hierin sind beide Produkte und Gefangene der Technik.
Nach festem gesetze. wie einst. aus heiligem chaos gezeugt.
So gesehen ist die Technik dort, wo sie in Gottwalds Werk als Fotografie oder Super8 Film vorkommt, nicht Prüfstein und Ausweis der Vermitteltheit und Über-setztheit unserer Erfahrung, sondern ein Modell der Gesetze der Natur. In und durch die Technik erscheint uns die Natur ungebrochen, denn die Technik erscheint in Gottwalds Werk allein als eine von Menschenhand geschaffene vollkommene Analogie zur Natur. Wie jede Erkenntnis ist Wissen, Wissenschaft und Technik in Gottwalds Werk Ausweis eines Analogons zur Natur. Im technischen Vollzug wirkt jenes göttliche Prinzip, welches als geschautes Prinzip auch Natur durchwirkt.
Die Technik selbst verschwindet hinter der sich in ihr und durch sie vollziehenden Gesetzmäßigkeit und erscheint nunmehr als Das Gesetz, als Gott welcher die Natur durchwirkt. Hier offenbart sich jenes Dreieck von Natur, Gott und Technik, welches seine Wurzeln in der deutschen Romantik hat. Bildnerisch gesehen bildet sich hier das Ornament als Stilfigur heraus. Mathematische Konstruktion und deren naturhafte bzw, organische Ummantelung sind nicht mehr unaufhebbare Gegensätze, sondern zwei sich einander bedingende und gegenseitig erhellende Prinzipien. Gottwalds 12-teiliges Holzensemble am Ort der Verwandlung vollzieht genau diese gegenseitige Bedingtheit von Konstruktion und Zerfall, von Statik und Bewegung als sich wechselseitig bedingende Prinzipien innerhalb des göttlichen Uhrwerkes Natur. Es ist kein Zufall, daß gerade diese 12teilige Arbeit an Sonnwendfeuer und andere neogermanische Naturriten errinnern.
Fühlt neu die begeisterung sich.
Das Wiederentdecken einer "germanischen" Tradition im 19. Jahrhundert ging einher mit dem Erwachen eines neuen Pantheismus. Hierbei koppelte sich die Vorstellung von "griechischer" Naturmystik mit des germanischen Dreierschritts von Kausalität, Natur und Gott. Gottwalds Werk ist durchdrungen von "germanischer" Symbolik, durchdrungen von einer Dualität sich wiederstreitender Mächte, den Gegensätzen Kultur/Natur, Teuflisch/Göttlich, Geist/Körper, Anorganisch/Organisch, Statisch/Dynamisch. Wie im Schrei von Munch sind die Werke erstarrt in ihrer Entfesselung - oder entfesselt in der Erstarrung, gefangen in ihrem eigenen Antagonismus. Als umfassendes Symbol für diesen Antagonismus steht das Ornament als naturwüchsig wucherndes geometrisches Element. Als entfesselte Logik bzw. logische Entfesselung war es seelischer Spiegel jenes Zustandes, welchen wir Hysterie nennen und visueller Bote des sich ankündigenden 1. Weltkrieges.
Die allerschaffende wieder.
In kein Medium ist das Ineinandergreifen von Statik und Dynamik, Eruption und Erstarrung radikaler eingeschrieben als in den Film. Hier verdichtet sich als synthetische Kopie des menschlichen Traumzustandes die politische Dimension der Technik. Der Film ist die Visualisierung eines Denkens, das auf analogen Entsprechungen und Spiegelungen aufgebaut ist. Eines Denken, das in allem immer das Gleiche erblickt. Hierin sind Gottwalds Weltverständnis und das Medium Film miteinander identisch. Der Film "Rhythmus des Waldes II" bringt diese Entsprechung der verschiedenen Ebenen des Bezeichneten und des Bezeichnens auf den Punkt. Dort erblicken wir in einem Waldstück, befestigt an einem Ast, eine hin und her schwingende Schaukel, welche den Abschluß der Arbeit "Kunstverwaltung" bildet. Die Kamera schwenkt,die Schaukel immer im Bild, langsam vertikal nach oben. Nach und nach kommen die Wipfel der Bäume ins Bild. Diese bewegen sich im demselben Rhythmus und in derselben Richtung wie die Schaukel. Zwischen den Wipfeln öffnet sich ein Himmelsloch. Das Licht ist fahlweiß. Plötzlich fällt der Blick des Betrachters auf den Bildschirm. Himmelsloch und Bildschirm scheinen einander ebenso zu entsprechen wie die sich im Winde bewegenden Wipfel und die Schaukel. Beide, wie magnetisch miteinander vereinigt, vollführen stereotyp dieselbe Bewegung. Sie aber bewegt sich nicht vor und zurück sondern entgegen ihrer Natur seitwärts. So bleibt die Bewegung der Schaukel zurück wie eine Wunde.