Michael Hofstetter, upcycling, 2013

 

Haus der Kunst
Prinzregentenstraße 1
80538 München

 

Vanity F(l)air – Biennale der Künstler, Haus der Kunst München

 

Austellungseröffnung: Sonntag, den 4. August 2013, 18.00 bis 22.00 Uhr
Dauer der Ausstellung: 5. August – 4. Oktober 2013



Essay: Karin Hutflötz



Michael Hofstetter: upcycling, 2013



Mit 70 Neonbuchstaben, die einst an Außenfassaden von Restaurants und Geschäften Werbebotschaften verkündeten, schreibt Michael Hofstetter in seinem Werk „upcycling" eine andere Botschaft. Was einst für „BUDWEISER", „EROS" oder „LIFT UP YOUR LIFE" geworben hat, wird jetzt für ein Zitat von Theodor W. Adorno verwendet: „DIE WIRKLICHKEIT DER KUNSTWERKE ZEUGT FÜR DIE MÖGLICHKEIT DES MÖGLICHEN"

Dieser Satz aus Wortruinen der Reklame im ersten Raum der 1. Münchner Bienale an der Wand ganz oben, randständig zur Decke installiert, lenkt den Blick auf die beachtliche Raumhöhe und das Pathos der Architektur. „upcycling" nimmt damit auf doppelte Weise Bezug auf das Haus der Kunst. Zum einen verweist es inhaltlich auf Utopieentwürfe linker Denker und stellt sich damit konträr zur faschistischen Vergangenheit. Zum anderen wird durch den transformatorischen Charakter der anders verwendeten Buchstaben die Weiter- und Umschreibung der Geschichte des Hauses der Kunst thematisiert. Der so weit oben und aus verschiedensten Buchstabenarten montierte Leuchtreklameschriftzug erlaubt nur ein langsames Lesen der Worte: ein Ausbuchstabieren im Denkschritt sozusagen und zwangsläufig als Gipfelblick, der abstrakten Höhe ihrer Aussage gemäß. Die inhaltliche Schwere und philosophische Dichte dieses Kernsatzes der Ästhetischen Theorie Adornos (Suhrkamp 1969, S. 200) wird aber in Form und Darstellung zum Leichten und Heiteren hin dialektisch gebrochen, besser gesagt: aufgehoben durch das vielfarbig-fröhliche Neonleuchten der Buchstabenzeile, die auch noch mit bis zum Boden reichenden Luftschlangen und leere Folienballons in Form von Spielzeugfiguren

„Komm zurück auf den Boden der Realität", raten wir jedem, der sich Traum und Fantasien hingibt, im Wahn von Illusionen verloren zu gehen droht. Die sogenannte harte Wirklichkeit – sie scheint der Maßstab unseres Seins. Auch Kunstwerke scheinen nur gültig hinsichtlich ihres (wie bloß verstandenen?) Wirklichkeitscharakters. Auch wenn das Kunstwerk „die Wirklichkeit" schon lange nicht mehr mimetisch abbildet, hängt diese als Marktwert ihm umso nachhaltiger an. In seiner Ästhetischen Theorie stellt Adorno diese Auffassung vom Kopf auf die Füße: „DIE WIRKLICHKEIT DER KUNSTWERKE ZEUGT FÜR DIE MÖGLICHKEIT DES MÖGLICHEN" Adorno nimmt mit diesem Satz Bezug auf eine Geschichte von Walter Benjamin, der darin von der Ankunft des Messias erzählt. Alles bliebe so wie immer. Die Tasse, der Stuhl, alle Dinge wären dieselben – nur ein wenig verrückt.

Die Utopie ist schon in der Wirklichkeit selbst verborgen, weil die Realität eben nicht nur eine realisierte Möglichkeit unter vielen Möglichkeiten ist – sondern in jedem möglichen Hin- und Augen-Blick wirkliche Potentialität enthält. Weil auch das Gewesene nicht nur Gegenstand einer Geschichte, niemals nur gewesen, sondern auch zukünftig anwesend ist, immer auch jetzt mitspielt und insofern wirklich ist. WIE das geschieht, ist und bleibt aber offen. Ist der Gestaltungskraft und Gunst der Stunde, dem Spiel der Zeiten und ihrer Akteure anheimgestellt.

Die Wirklichkeit des Kunstwerkes ist also weniger ihr Marktpreis, sondern das Potential, das sie für die Realität, die nur vermeintlich Dinghafte, aufzeigt – ihre Möglichkeit die Dinge im gesetzten Kontext zu verrücken und damit ihre Zufälligkeit und Nicht-Identifizierbarkeit, zugleich ihre Deutungsfülle und Wandelbarkeit je neu in den Blick zu rücken. Kunst vermag, wo sie in diesem Sinne zeugen kann, die Dinge ins rechte Licht des Wandelbaren zu rücken – im doppelten Sinn: um der Vergänglichkeit ein Gesicht und der geschichtlichen Transformation einen Spielraum des Möglichen zu geben. Im Aufscheinen ihrer Möglichkeit ist Wirklichkeit aber erst wirkmächtig. Ansonsten bleibt es bei der Ansammlung toter Artefakte, bei scheinbaren Eindeutigkeiten, in denen jede Transformation zu Ende gekommen ist: Ware, Fetisch, Müll.

Nicht Weltflucht, die der Kunst gern unterstellt wird, ist Sublimation, sondern der Glaube an die eine, sogenannte unumstößliche Realität. Ein strategisches Machtdispositiv, ein inzwischen nicht mehr religiös bedingter, sondern bloß medial inszenierter Glaube, dem Funktions- und Effizienzprimat der Massengesellschaft geschuldet. Wer dem hörig wird, verschließt die Augen vor dem so utopischen wie unerschöpflichen Gehalt des Gewesenen und des Zukommenden. Wer so die Möglichkeiten der Wirklichkeit nicht mehr zu sehen vermag – als sei sie ein ein-für-allemal eingerichteter Raum (von wem? wann? für wen?) – ist tot unter toten Dingen. Negiert Wahrnehmung, Bewegung und Zeitlichkeit. Versäumt Erfahrung. Vermeidet Lebendigkeit. Verfällt folgerichtig ins Lamento der Vergänglichkeit, existenziell betrachtet: in inhaltsleeres Streben nach Sicherheit. Sei es im Deuten, im Wissen, im Leben: ein einziger Vorwurf an die Dinge, dass sie nicht bleiben, was sie immer schon sind, aber genau genommen nie waren.

Verwandlung als Grundzug künstlerischen Schaffens materialisiert sich im Kunstwerk gerade dann, wenn es gelingt, der Versuchung fahler Imagination von festem Halt an eindeutig feststellbarer Wirklichkeit abzusagen – zugunsten wovon? Um die allgegenwärtige Wandelbarkeit der Dinge, die Geschichtlichkeit des Wirklichen als Spielraum des Möglichen ernst zu nehmen und damit das der Erwartung sich entziehende Potential zu echter Verwandlung (statt bloß zur steten Veränderung) je neu zu eröffnen. Dies ist jedoch genau genommen nicht zu „machen", wie dieser Satz Adornos ausdrücklich hervorhebt – sondern dies geschieht. Die Kunst kann in ihren Werken aber „zeugen" für die Möglichkeit des Möglichen: ihre Wirklichkeit verweigert sich dem allgegenwärtig propagierten Machbarkeitswahn, ihre Möglichkeiten liegen jenseits der scheinbar einzig vorstellbaren Dichotomie von Macht und Ohnmacht. Sie zeigt und bezeugt in ihren Werken die in Wahrheit keineswegs statische und berechenbare Realität, sondern deren je eigene Dynamik als Verwandlungsgeschehen.

Damit birgt und entbirgt Kunst bestenfalls, was Adorno und nicht zuletzt auch Benjamin ihr in hohem Maß zusprachen: einen utopischen Gehalt. Aber nicht als berechenbare Hoffnung, Erwartung, Versprechen auf eine wie auch immer vorgestellte absolute Erlösung als Endlösung – wie Propaganda es tut. Sondern vielmehr nach Art der Reklame: die weiß, dass sie mit großen, oft absoluten Hoffnungen, Erwartungen, Versprechungen frei spielt, aber eben nur spielt. Sie verleugnet nicht das Scheinhafte, Inszenierte, Übertriebene im Setting des Als-ob. Reklame erlaubt alle Farben, provoziert Widerspruch und lebt vom Wettbewerb. Propaganda dagegen – in ihren Mitteln ganz ähnlich, nur unterschieden durch den ideologischen Ernst – reklamiert sicher zu erfüllende Hoffnungen, eindeutige Erwartungen und hehre Versprechen, negiert den Spielcharakter der Wirklichkeit, verleugnet ihre Potentialität und Offenheit, setzt ein einmal inszeniertes Welt-Bild als scheinbar absolut.

Wie leicht dies aus dem Blick gerät, zeigt sich daran, wie schwer die Kunst es heute hat, in der „Wirklichkeit" zu bestehen. Auch wenn der Kunstbetrieb etwas anderes spricht, auch wenn die Kunstmarktpreise inflationär steigen und Kunstwerke scheinbar immer mehr wert werden. Auch wenn sich eine ideologische Verbrämung und pseudosakrale Absolutsetzung der Kunstszene breit macht, die in gewiss ungewollt dialektischer Verkehrung gerade das von Hofstetter zitierte Zeugen der Kunst für die „Möglichkeit des Möglichen" leugnet – daher immer mehr im Unklaren lässt, wozu Kunst ist und sein soll – wenn nicht ein Produkt und Konsumgut wie jedes andere auch. Gerade deshalb bedarf es der ab-wegigen und ver-rückten Werke der Kunst, die sich einer Zweck- und Wertzuschreibung ebenso wie dem Eindeutigen und Festlegbaren entziehen. Dennoch nicht willkürlich und nicht Nichts sind, sondern vielsprechend und vielversprechend auf alles Mögliche (hinsichtlich seiner Möglichkeit!) weisen und verweisen und damit wirkliche Ver-rückungen aufweisen, die in aller Buntheit dafür werben den Blick bestenfalls wieder zu öffnen für die utopische Potentialität und den stets möglichen Spielraum der Wirklichkeit. Das meint keine vorgestellte Utopie eines absoluten Ankommens im ideologisch Eindeutigen eines positiven Ideals von Wirklichkeit. Das fordert überhaupt kein Ankommen, geschweige denn auf dem vermeintlich harten Boden der Realität. Sondern wirbt für den Aufbruch von Denkmöglichem zu Realmöglichem und setzt Leuchtsignale für die Verortung des utopischen Gehalts im stets Flüssigen und Verflüssigen von bildhaft zur „Realität" verfestigten Wirklichkeit. Folgerichtig ist die Kunst, wo sie dafür zeugt, auch nicht mehr als Bild von Wirklichkeit möglich, nur noch als Wink und Werbung, im Widerschein der Reklame – ihrer Hin- und Wegweisfunktion eingedenk. Natürlich findet hier keine Ver-rückung der Kunst hin zu einer Markthörigkeit im Dienst der Reklame statt. Der marktkritische Impetus des Hofstetter'schen Werks steht nicht in Frage, aber Nähe und Unterschied zwischen Werbung und Propaganda wird hier nicht wie so oft verleugnet, sondern deutlich in den Blick gerückt. „upcycling 2013" markiert den Umschlag zwischen Wort und Bild, zwischen Repräsentation und Verführung, zwischen Konstruktion und Fassade, wie Benjamin sagen würde.

Die Dinge sind in der Reklame nicht wirklich ihres möglichen Verfalls beraubt, sie erscheinen aber so – und zwar um jeden Preis. Die Reklame setzt das utopisch aufgeladene Bild von den Gegenständen an die Stelle der Gegenstände und verspricht so das Bewahren vor dem naturgemäß unumgänglichen Verfallsprozess. Sie trennt uns durch das Versprechen auf Welt von der Welt. Insofern ist die Werbeästhetik der Reklame die konsequente Fortsetzung der Erhabenheitsästhetik des Klassizismus, spätestens seitdem ist Schönheit mit dem Pilz vollkommener Verdinglichung befallen. „upcycling 2013" entbindet den Betrachter von der Schwere des Verstehenmüssenwollens und macht scheinbar leichte Kost aus Adorno. Es spielt bewusst mit Verfahren der Inszenierung, wie und wo man Propagandaschriften anbringt, gleichzeitig versucht es sie mit Erfahrungen subversiver Werbeästhetiken aufzulösen. So zeigt sich, was in der Schlichtheit eines einseitig reklame-kritischen Dogmas gern verloren geht, dass die Rückseite der Reklame immer die Verleugnung des (ausschließenden) Wahrheitsanspruches zugunsten einer (alles einschließenden) Freiheit und zutiefst menschlichen Spieltriebs ist. Das erst gibt den paradiesischen Möglichkeiten der Kunst, die bei Adorno anklingen, wieder eine Unmöglichkeit, die ganz im Sinne Benjamins im Werk gerettet werden kann.
Denn Hofstetter fällt der Versuchung zum Glück nicht anheim, die Sache, für die er wirbt (und sie betrifft ja nichts Geringeres als den Sinn von Kunst) ideologisch zu überhöhen und auf den Propaganda-Sockel einer apodiktischen Aussage zu stellen. Da sind die Luftschlangen und die Ballons davor! An den Buchstaben hängend, in verdichtetet Weise an der Wirklichkeit, wehen sie bewegt durch den Luftzug des Raumes vor den Wänden. An ihren Enden in die Raumkante gedrückt und in die Simse gequetscht kleben vereinzelt platte Folienballons. Materielle Reste aufgeblasener Versprechen auf dem faktischen Boden der Realität. Den Betonmischern!, Starfightern, Motorrädern Feuerwehrautos und Boings ist die Luft ausgegangen. Die Brüchigkeit der Typografie, ihr spielerischer Umgang mit Form und Farbe durch Verdoppelung einzelner Buchstaben oder bildlicher Konstruktionen der Umlaute wird durch die Entsockelung der Erhabenheitsarchitektur weitergetrieben. Der vom und durchs Werk zitierte Satz Adornos (dieser vielleicht tiefgründigsten Antwort der Ästhetik auf die Frage nach dem Wozu der Kunst) gerät auf diese Weise in eine Fragwürdigkeit, die keine abschließende Antwort mehr zulässt. Einen größeren Gefallen kann man einem denkwürdigen Satz wie diesem nicht tun.

Karin Hutflötz, Oktober 2013